Stefanie Weinberger
· 15.04.2023
Radfahrer aller Geschlechter zählen zu den Sportlern mit der am stärksten verkürzten oder versteiften Muskulatur. Dagegen hilft dehnen. Doch sind Dehnübungen für Radfahrer überhaupt sinnvoll, und was ist dabei zu beachten?
Je länger die Radtour, umso kürzer die Muskeln … Ok, ganz so stimmt das nicht. Aber es ist was dran an dieser – natürlich sehr simpel formulierten – Aussage. Auf jeden Fall neigen Fahrradfahrer durch die ziemlich starre und gebeugte Haltung auf dem Rad sowie durch die geführte gleichförmige Bewegung verstärkt dazu, dass sich einzelne Muskelgruppen verkürzen. „Vor allem die Hüftbeuger, Oberschenkel-, Waden- und seitliche Gesäßmuskulatur neigen zu Verkürzungen“, erklärt die Physiotherapeutin Melanie Paulacher aus Bad Aibling (siehe auch Interview weiter unten).
Außerdem verlangt das Radeln vor allem der Rücken- und Nackenmuskulatur viel statische Haltearbeit ab, wodurch sich diese Bereiche leicht verspannen. Beidem, Verkürzung und Verspannung, wirken Dehnübungen entgegen. Es gibt sie in allen möglichen Varianten, statisch oder dynamisch, wippend oder schwingend, lang oder kurz. Doch erst kam das schwingende und wippende Dehnen aus der Mode, ein bis zwei Jahrzehnte später wurden Dehnübungen dann generell von Experten immer mehr infrage gestellt und eine Reihe von Pro- und Contra-Argumenten ausgetauscht (siehe unten “Pro & Contra”).
Während sich bei manchen dieser Thesen Befürworter und Kritiker des Dehnens, oft auch Stretching genannt, teilweise immer noch recht unversöhnlich und kontrovers gegenüberstehen, weiß aber auch so gut wie jeder aus praktischer Erfahrung: Gerade nach einer langen Tour oder auch schon währenddessen tut eine Dehnpause einfach gut. Sie kann zum Beispiel dabei helfen, den verspannten, schmerzenden Nacken wieder zu lockern und zu beruhigen.
Ab Ende der 80er-Jahre waren wippende Bewegungen, die mancher noch aus dem Sportunterricht kennt, out. Dann wurde das Dehnen von Experten generell infrage gestellt. Doch kennt praktisch jeder die wohltuende und entspannende Wirkung aus eigener Erfahrung.
Auch Oberschenkel und Waden, welche die meiste Vortriebsarbeit leisten müssen, können schon unterwegs gedehnt und damit wieder fit für die nächsten Kilometer gemacht werden. Auch auf die Psyche kann das Dehnen entspannend wirken, das wurde sogar in Studien nachgewiesen. Außer diesen eher praktisch und subjektiv spür- oder messbaren Effekten haben Wissenschaftler in den vergangenen Jahren auch auf der molekularen Ebene in der Struktur der Muskulatur Erkenntnisse über das Dehnen gewonnen.
Hier spielt eine Art molekulare Feder eine Rolle, das sogenannte Titin (auch Connectin genannt): Es handelt sich dabei um das größte bekannte menschliche Protein. Seine Fasern halten die kleinsten Fasern der Muskeln an Ort und Stelle und gewährleisten so deren Ruhespannung, Elastizität und Stabilität. Dehnübungen können der molekularen Feder dabei helfen, diese Aufgabe besser zu erfüllen.
Wippen ist ziemlich klar weiterhin out, statisches Dehnen in. Das heißt, die langsam eingenommene Endstellung einer Dehnposition wird über einige Sekunden bis zu etwa einer Minute – manchmal auch länger – gehalten. Je länger die Dauer der Dehnung, umso mehr „fasziale“, also Bindegewebsstrukturen, welche die Muskulatur umhüllen, werden dabei mitgedehnt. Am besten erkennt man die Wirkung an einem deutlichen Ziehen in der betreffenden Region.
Darüber, ob man dabei auch bis an oder über die Schmerzgrenze hinaus gehen soll, besteht wiederum keine völlige Einigkeit unter den Experten. Doch empfiehlt es sich wie überall beim Sporttreiben, hier vor allem auf das eigene Körpergefühl zu hören und zielgerichtet, aber nicht zu brachial vorzugehen.
Auf die eigenen Bedürfnisse zu hören gilt auch für den richtigen Zeitpunkt: Falls Sie nicht gerade an der Startlinie eines Wettkampfs stehen, sind Dehnübungen eigentlich nach Lust und Laune erlaubt, wann immer einem danach ist – sowohl zwischendurch auf der Radtour als auch abends zu Hause oder im Hotelzimmer, Wellnessbereich oder wo auch immer sich ein geeignetes, ruhiges Plätzchen dafür findet.
Für Hobbysportler überwiegen die positiven Effekte des Dehnens, doch man sollte es (wie überall) nicht übertreiben!
Einer der Hauptgründe für regelmäßiges Dehnen, vor allem bei Radfahrern, bei denen viele typische Muskelgruppen zur Verkürzung neigen.
Zumindest bei sonst nicht Balance-Trainierten: In einer Studie bei untrainierten Studenten verbesserte sich die Balancefähigkeit im Anschluss an ein Dehntraining signifikant um etwa zehn Prozent.
Im Lauf mehrerer Wochen steigt der Widerstand des Bindegewebes gegenüber Dehnungen, da es sich der mechanischen Beanspruchung anpasst. Das kann die Bewegungs-Ökonomie verbessern.
So zeigte sich, dass sich die Schmerzschwelle nach wiederholter Dehnung verschiebt und Probanden dadurch zumindest kurzfristig beweglicher wurden.
Daher sind Dehnübungen häufig Teil von Entspannungstechniken wie progressiver Muskelrelaxation oder Yoga. Sie beeinflussen Hirnzentren, welche die Muskelaktivität dämpfen.
Zwar ist dieser Punkt umstritten, doch Übersichtsarbeiten kommen zu dem Schluss, dass Dehnen Verletzungen höchstens nur in sehr geringem Maß vorbeugen kann.
Vor allem, wenn die Übungen falsch ausgeführt werden oder bei vorgeschädigten Gelenken. Besonders vorsichtig sollte man zum Beispiel bei geschädigten Knien sein.
Das ergaben Messungen, jedoch sind diese muskulären Leistungen für Radfahrer, die eher Kraftausdauer benötigen, nicht so wesentlich.
Dehnen kann Muskelkater, anders als manchmal angenommen, weder verhindern noch lindern.
Untersuchungen zeigten, dass statisches Dehnen im Vergleich zu anderen Maßnahmen wie Auslaufen am wenigsten zur muskulären Regeneration beitrug.
Vor allem, wenn sich die Tour in die Länge zieht, sollte man das gleiche auch mit den Muskeln tun. Besonders die stark beanspruchten Bereiche freuen sich über eine kleine Stretching-Einheit.
Setzen Sie die Ferse des leicht gebeugten, angehobenen Beins zum Beispiel auf dem Unterrohr des Fahrradrahmens ab und dehnen Sie die gesamte Beinrückseite, besonders die rückwärtige Oberschenkelmuskulatur.
Stellen Sie sich mit der Fußspitze auf eine leichte Erhöhung wie zum Beispiel das Fahrradpedal und beugen Sie sich mit gestrecktem Bein leicht nach vorne, sodass Sie einen leichten Zug in der Wadenmuskulatur spüren.
Kopf nach vorne beugen, Schultern zurücknehmen, Rücken aufrichten, Hände der gestreckten Arme fassen. Kopf über das Ziehen des Kinns zur Brust nun so weit nach unten neigen, bis die Dehnspannung im Nacken gut zu spüren ist.
In gestreckter Haltung den Oberkörper um etwa 90 Grad – oder so weit man gut kommt – beugen. Zur Stabilisierung und um den Zug zu verstärken, zum Beispiel am Lenker des Rades gegenhalten.
Endlich angekommen, stehen alle Zeichen auf Erholung. Noch runder wird das Abendprogramm, wenn Sie dabei auch ans Dehnen denken – gerade bei Übungen im liegen ist die Entspannung sehr angenehm.
Handtuch unters Knie legen (zumindest bei empfindlichen Knien zu empfehlen), in einem weiten Ausfallschritt nach hinten auf dem Boden aufsetzen und durch eine Vorwärtsbewegung der Hüfte deren Beugemuskulatur dehnen.
Legen Sie sich auf den Rücken, winkeln Sie die Beine an und schlagen Sie ein Bein mit dem Sprunggelenk über das andere. Drücken Sie es am Oberschenkel mit der Hand leicht nach vorne und spüren Sie den Zug seitlich am Po.
Legen Sie sich bequem auf den Boden, winkeln Sie die Arme und Beine an. Drehen Sie die gebeugten Knie dann behutsam aus der Hüfte heraus zur Seite und versuchen Sie, diese auf dem Boden abzulegen.
Legen Sie sich in Rückenlage ein zusammengerolltes Handtuch oder Ähnliches unter die Brustwirbelsäule. Stützen Sie sich mit geöffneten Armen leicht vom Boden ab, öffnen Sie bewusst den Brustkorb und dehnen Sie den vorderen Schultergürtel.
In der physiotherapeutischen Praxis steht der nutzen des Dehnens außer Zweifel. Wir haben nachgefragt, wo die Schwerpunkte bei der Behandlung von Radfahrerinnen und Radfahrern liegen.
MYBIKE: Frau Paulacher, Sie behandeln in Ihrer Praxis auch viele Radsportler. Welche typischen Problemzonen gibt es hier?
Melanie Paulacher: Ich stelle immer wieder fest, dass häufig deren Hüftbeuger, Waden, seitliche Gesäßmuskeln sowie die Oberschenkelmuskulatur verkürzt sind. Außerdem können Bänder und Faszien, also das Bindegewebe, mit einbezogen sein, zum Beispiel der Iliotibialtrakt, der seitlich vom Gesäß über den Oberschenkel zum Knie läuft. Eher verspannt und überbeansprucht als verkürzt sind außerdem oft Rücken und Nacken.
MYBIKE: Manchmal hört oder liest man, dass Dehnen gar nicht so viel Sinn habe, denn viele würden es falsch oder uneffizient machen.
Melanie Paulacher: Natürlich ist es am besten, die Übungen unter fachkundiger Anleitung gezeigt zu bekommen und zu lernen, bevor man sie selbst ausführt. Auch ist es gut, sich beraten zu lassen, wo die persönlichen Schwachstellen liegen. Insgesamt überwiegt der Nutzen aber aus meiner Sicht meistens die Risiken.
Bei Schmerzen oder länger bestehenden Beschwerden sollte man abklären, ob nicht ernsthafte orthopädische Probleme dahinterstecken. Dann gibt es aus meiner Sicht keine Bedenken gegen das Dehnen, ich halte es sogar für einen unverzichtbaren und nützlichen Bestandteil der Ausgleichs-gymnastik, gerade für Radsportler. (Melanie Paulacher)
MYBIKE: Oft kann das Dehnen zudem ganz schön wehtun – gerade, wenn man schon Verkürzungen oder Verspannungen hat. Was raten Sie hier: Richtig in den Schmerz reindehnen oder lieber schon aufhören, wenn es deutlich zu ziehen beginnt?
Melanie Paulacher: Klar, es sollte nicht zu heftig sein mit den Schmerzen. Aber eine Art Wohlfühlschmerz ist durchaus in Ordnung. Er signalisiert, dass etwas passiert, und wo sich die aktuelle und optimale Grenze bei der jeweiligen Dehnstellung befindet. Viele Sportler empfinden diesen Schmerz durchaus als ganz angenehm und sein langsames Nachlassen als entspannend. Man sollte aber auf seinen Körper hören. Beim Dehnen werden oft Nervenbahnen mitmobilisiert, was sich erst später, zum Beispiel am nächsten Tag, auswirkt.
MYBIKE: Viele Leute scheitern daran, die Übungen regelmäßig zu machen …
Melanie Paulacher: Dieses typische Problem in der Physiotherapie wird sich nie ganz ausmerzen lassen. Wenn ich vermute, dass jemand die Übungen sowieso nicht macht, schicke ich ihn ganz gerne in einen Yoga-Kurs. Viele Übungen dort sind sehr gute Dehnübungen, man ist motiviert in der Gruppe und bekommt auch gleich die Anleitung vorgeturnt.