Sina Horsthemke
· 25.10.2021
Viele Radsportlerinnen und Radsportler tragen Kinesiotapes an Knien, Schultern oder im Nacken. Was bringen die bunten Klebestreifen? Kann man sich selbst tapen? Und was muss man dabei beachten? MYBIKE klärt auf.
Kaum eine Sportveranstaltung, in der man sie nicht sieht: bunte Streifen auf Sportlerkörpern. Sie kleben an Schultern, umschlingen Knie oder zieren Rücken. Spätestens seit den Olympischen Spielen in London 2012 gehören sie zum Sport wie die Nationalhymne zur Siegerehrung. Alles nur Show? Dr. Lucia Kühner ist überzeugt: „Kinesiotapes können Verspannungen lösen, die Regeneration beschleunigen und bei Überlastungsschäden helfen.“ Die Fachärztin für Allgemein- und Sportmedizin ist Triathletin und Radfahrerin. Im Urlaubsörtchen Grömitz an der Ostsee führt sie eine eigene Praxis und behandelt regelmäßig Ausdauersportler mit Kinesiotapes. „Viele fragen sich, wie etwas, das nur auf der Haut klebt, auf die Muskulatur darunter wirken soll“, sagt Kühner. Die Klebetechnik wirke sensorisch, erklärt die Ärztin: „Zwischen Haut und Muskulatur liegen sogenannte Mechanorezeptoren, die auf Druck oder Dehnung reagieren. Die Tapes heben die Haut leicht an, was den Druck sofort vermindert und so Schmerzen abklingen lässt. In der Muskulatur kommt es zu gesteigertem Stoffwechsel, Verspannungen lösen sich.“ Das Ganze funktioniere allerdings nur in Kombination mit Bewegung, so Kühner: „Ein Tape aufzukleben und sich dann hinzulegen ist nicht sinnvoll. Nur in Bewegung können die Bindegewebsmassage und die Anregung des Stoffwechsels funktionieren. Mit starrem Tape würde es nicht gehen.“
Dr. Lucia Kühner, Triathletin und Sportmedizinerin: „Ein Tape draufzukleben und sich dann hinzulegen ist nicht sinnvoll.“
Kinesiotapes bestehen aus dehnbarem Textil, meist Baumwolle, Elasthan, Viskose oder einer Mischung daraus. Auf einer Seite sind sie mit Acrylkleber beschichtet und kleben mit meist zehnprozentiger Vordehnung auf einer Trägerfolie. „Diese Vordehnung sollte man beim Aufkleben beibehalten“, rät Manuel Klose, Leiter der Abteilung für Physikalische Therapie am Klinikum Freising. Die Tapes zu sehr zu dehnen sei aber ebenso wenig sinnvoll wie gar nicht zu dehnen, so der Physiotherapeut: „Laien bringen oft zu viel Spannung ins Tape. Um mehr als 30 bis 40 Prozent sollte man es aber nicht verlängern, sonst kann es passieren, dass die Haut schmerzhafte Spannungsblasen bildet.“
Schmerzen bereitet vielen Radfahrern das Knie – und oft hilft ihnen dann ein Tape, weiß Ärztin Lucia Kühner: „Die Oberschenkelmuskulatur ist auf dem Rad stark beansprucht – erst recht bei langen Touren mit vielen Steigungen. Das führt zu großem Druck auf die Kniescheibe und manchmal zu Sehnenansatzentzündungen.“ Sie versorgt auch Radfahrer mit Kinesiotapes, wenn sie unter Nackenverspannungen leiden, unter Schmerzen im Bereich der Lendenwirbelsäule, kleinen Muskelfaserrissen oder Problemen mit dem Tractus iliotibialis, einem breiten Faserzug seitlich am Oberschenkel. „Gute Erfolge erziele ich auch bei Achillessehnenreizungen, die oft auftreten, wenn Hobbyradler auf Klickpedale umsteigen“, berichtet Kühner. Je nach Diagnose wählt die Ärztin zwischen beruhigenden und aktivierenden Tapes. „Soll das Tape entspannen, klebe ich es vom Ansatz zum Ursprung des Muskels. Die richtige Länge messe ich am gedehnten Muskel ab. In normaler Position bildet das Tape dann kleine Wellen – sie bewirken die Massagefunktion.“ Ein aktivierendes Tape, etwa vor einer langen Tour, klebt Kühner ohne Vorspannung und in umgekehrter Richtung – vom Ursprung zum Ansatz. „Das macht den Muskel wach.“
Die Bedeutung der Farben
Anders als viele meinen, hat die Farbe der Bänder keine Bedeutung. „Das Material ist immer das gleiche“, sagt Kühner, auch wenn manche blaue Tapes beruhigend fänden, rote aktivierend und grüne regenerierend. „Das ist wohl nur ein psychologischer Effekt“, meint die Ärztin. Der sei allerdings nicht außer Acht zu lassen. Physiotherapeut Klose stimmt ihr zu: „Es ist nicht wie bei einem Theraband, dass etwa ein schwarzes Tape stärker ist oder so. Doch auf die Patienten haben die Farben eine Wirkung.“ Klose ist davon überzeugt, dass sich die Farbe der Tapes auf Mitarbeit und Motivation auswirkt. „Frauen finden Pink oft stylisch, während männliche Muskelprotze sich damit nicht identifizieren können.“ Zwei Farben sind in Kloses Räumen im Freisinger Klinikum immer am schnellsten aufgebraucht: Schwarz und Rot. Wie Kühner legt Klose seinen Patienten in diversen Lebenslagen Kinesiotapes an: nach einer Operation beispielsweise, um den Lymphabfluss zu fördern, oder nach Verletzungen zur Stabilisierung. „Gern klebe ich sogenannte Memory-Tapes“, berichtet der Münchener. „Sie ziehen etwa bei schlechter Haltung am Schulterblatt und erinnern den Sportler an die korrekte Position.“ Das hilft laut Klose auch manchem Radfahrer: „Viele sitzen bei zunehmender Müdigkeit etwas schlampig auf dem Rad. Ihr Tritt wird unökonomisch, die Knie kippen zu weit nach innen. Ein Tape mit Memory-Effekt außen auf dem Oberschenkel wirkt dem entgegen.“ Vorbeugen ließe sich mit Kinesiotapes auch, verspricht Klose: „Hatte jemand beispielsweise vor drei Jahren einen Muskelfaserriss, und nun macht jedes Mal ab Kilometer 20 der Muskel zu, kann ein Tape die Mikrozirkulation verbessern und die Funktion länger aufrechterhalten.“
Das sagt die Wissenschaft
So gut das alles klingt – Kinesiotaping hat einen Haken: Wissenschaftlich ist nicht eindeutig bewiesen, dass es wirkt. „Die Studienlage ist schlecht“, gibt Tape-Experte Klose unumwunden zu. „Arbeiten, die dafür sprechen, haben oft nur eine niedrige Evidenzklasse oder schließen nur wenige Probanden ein. Und die gut aufgebauten Studien enthalten Formulierungen wie ‚wenig relevant‘, ‚nicht nachweislich‘ oder ‚experimentelles Stadium‘.“ Das sei auch der Grund, ergänzt Kühner, weshalb die gesetzlichen Krankenkassen eine Therapie mit Kinesiotapes nicht bezahlen. Die Sportmedizinerin von der Ostseeküste hat trotz zweifelhafter Datenlage den Eindruck, dass die Tapes wirken. „Zudem sind sie schnell angebracht und vergleichsweise günstig“, sagt die Ärztin. Wichtig sei dennoch, die Ursache der Beschwerden zu finden. „Ich tape Radfahrer nur in Verbindung mit Trainingstipps. Rühren Rückenschmerzen von einer falschen Sitzposition her, dann kann ich nicht einfach ein Tape aufkleben, und die Beschwerden verschwinden.“ Kühner betont: „Kinesiotapes ersetzen kein Training der Rumpfstabilität.“ Auch bei schweren Verletzungen wie Muskelrissen oder strukturellen Schäden wie Kniearthrose könne ein elastisches Textilstück nicht viel ausrichten. Dass Radsportler von den bunten Klebestreifen zu viel erwarten, komme aber selten vor, berichtet Kühner. „Es ist eher umgekehrt: Viele trauen den Tapes nicht viel zu und sind dann von der Wirkung positiv überrascht.“
Manuel Klose, Leiter der Abteilung für Physikalische Therapie am Klinikum Freising : „Man kann sich selbst tapen, muss sich aber vorher damit beschäftigen.“
Und Nebenwirkungen?
Klose klebt Tapes mittlerweile sogar, um störendes Narbengewebe beweglicher zu machen. „Hat ein Radfahrer etwa nach einem Sturz eine ältere, schlecht verheilte Narbe am Bein, die sich nicht gut verschieben lässt und ihn dadurch in der Bewegung behindert, kann ich ein Tape anlegen, das bei jeder Pedalumdrehung Zug darauf ausübt und die Narbe quasi nebenbei elastischer macht.“ Nebenwirkungen hätte Kinesiotaping kaum, da sind sich beide Experten einig. „Aufpassen muss man nur bei Pflasterallergien“, sagt Klose. Die rühren aber meist vom Kleber her, nicht von der Baumwolle, daher könnten Sportler, die damit Probleme haben, auf hypoallergene Tapes für sensible Haut zurückgreifen. Etwa jeder Zehnte, schätzt Klose, zeige Hautreaktionen wie Rötungen, Juckreiz oder Bläschenbildung. Kühner rät, bei frischen Sportverletzungen mit Tapes vorsichtig zu sein: „Ein zu straff und nicht korrekt geklebtes Tape kann die Schwellung noch vergrößern.“ Auf offenen Wunden oder erkrankter Haut haben Kinesiotapes nichts zu suchen, ebenso nicht im Bereich von Krampfadern oder Thrombosen. „Bei Fieber ist Taping ebenfalls tabu, weil der Stoffwechsel schon auf Hochtouren läuft und man ihn nicht zusätzlich aktivieren sollte“, empfiehlt Kühner. Weil man mit Kinesiotapes insgesamt wenig falsch machen kann, dürfen sich Sportler mit etwas Vorwissen selbst tapen. Physiotherapeut Klose stimmt der Ärztin zu: „Man kann sich selbst tapen, muss sich aber vorher damit beschäftigen und beispielsweise wissen: Tut da am Sprunggelenk ein Band oder ein Muskel weh?“ Voraussetzung für erfolgreiches Selbsttaping sei natürlich eine gute Sicht auf die zu behandelnde Körperstelle, so Klose. „Wer dann nicht zwei linke Hände hat, kann ein Kinesiotape ohne die Hilfe eines Arztes oder Physiotherapeuten korrekt aufkleben.“
Sie wollen selbst Band anlegen? Kein Problem: Sportler müssen nicht unbedingt einen Arzt oder Physiotherapeuten aufsuchen, wenn sie ein Kinesiotape brauchen. Antworten auf die häufigsten Fragen – und was es sonst noch zu beachten gilt.
Woher weiß ich, wie ich das Tape anlegen muss?
Ob Nackenschmerz, Spreizfuß oder Tennisarm – auf Youtube gibt es für jedes Sportlerproblem, bei dem ein Tape helfen könnte, zahlreiche Video-Anleitungen. Schritt für Schritt können Sie das Tapen auch aus Büchern lernen (z. B. „Taping im Sport“ oder „Taping – 30 Supertapes gegen Muskel-, Nervenund Faszienschmerzen“, beides im Trias-Verlag). Oder Sie lassen es sich einmal von Ihrem Physiotherapeuten zeigen, um sich das Tape beim nächsten Mal selbst anzulegen. So oder so ist es sinnvoll, zunächst mit einfachen Tape-Anlagen zu starten, um ein Gefühl für die Handhabung zu bekommen. Bei manchen Tapes – etwa auf dem Rücken oder an der Schulter – muss eine zweite Person helfen.
Wo kann ich sie kaufen?
Kinesiotapes gibt es mittlerweile sogar in manchen Drogeriemärkten. Fündig werden Sie zudem in Apotheken, Sportartikelfachgeschäften oder im Internet. Gebräuchlich sind Tape- Rollen in fünf Zentimeter Breite und fünf Meter Länge. Die Preise variieren zwischen zwei und zwölf Euro pro Rolle. Wer zu Pflasterallergien neigt, sollte hypoallergene Tapes verwenden.
Was ist hinsichtlich der Qualität zu beachten?
Die Preisunterschiede lassen Qualitätsunterschiede vermuten. „Welches Tape man kauft, ist aber vor allem eine Frage des Geschmacks und der Verträglichkeit“, sagt Physiotherapeut Manuel Klose. „Auch günstige können gut sein.“ Manche Tapes röchen allerdings „extrem chemisch“, wenn man die Packung öffne, so Klose. „Sie kleben oft besonders gut. Aber ob man sie lange auf seiner Haut lassen will, sollte man sich im Zweifel noch einmal überlegen.“
Wie bereite ich die Haut vor?
„Die Haut sollte fettfrei sein, weil das Tape sonst schlechter klebt und nicht so lange hält“, rät Manuel Klose. Verzichten Sie also vor dem Tapen auf Bodylotion oder Sonnencreme und kleben Sie das Tape nicht auf verschwitzte Haut. „Am besten ist, das Areal zuvor mit Alkohol oder Waschbenzin zu reinigen“, sagt der Physiotherapeut. Auf stark behaarter Haut haftet Tape nicht ganz so gut. Hier lohnt sich gegebenenfalls vorab eine Rasur – auch im Hinblick auf das spätere Abreißen.
Wie bereite ich das Tape vor?
Trennen Sie Tape-Streifen in passender Länge und gewünschter Anzahl mit einer scharfen Schere von der Rolle. „Dann schneiden Sie alle vier Ecken jedes Streifens rund, damit das Tape später besser hält“, rät Physiotherapeut Klose. Tipp: Reißen Sie die Schutzfolie etwa fünf Zentimeter vor einem Ende des Tapes durch und ziehen Sie sie zunächst nur dort ab – dann müssen Sie die klebende Seite nicht berühren, und das Tape bleibt beim Anbringen nirgendwo hängen.
Muss ich das Tape in die Länge ziehen?
„Laien bringen oft zu viel Zug aufs Tape“, sagt Manuel Klose. „Das ist aber gar nicht nötig und kann bei extremer Dehnung Spannungsblasen auf der Haut verursachen.“ Um bis zu 40 Prozent extra darf man das Tape in die Länge ziehen.
Was ist nach dem Aufkleben zu tun?
„Wärmen Sie das Tape nach dem Anlegen kurz an, dann hält der Kleber besser“, rät Physiotherapeut Klose. „Entweder mit den Händen unter leichtem Druck vorsichtig reiben oder kurz mit einem Föhn wärmen.“ Eine halbe Stunde später ist das Tape fest und hält dann tagelang.
Wann darf ich mit einem Kinesiotape Sport machen?
Sport macht dem Tape nichts aus – im Gegenteil: Erst in Bewegung kann es seine volle Wirkung entfalten. Ideal ist, nach dem Aufkleben eine halbe Stunde verstreichen zu lassen, bevor das Training losgeht. „Sonst könnte sich das frisch angelegte Tape durch die Zugkraft und den Schweiß bald wieder lösen“, so Klose.
Darf ich mit dem Kinesiotape duschen?
Kinesiotapes vertragen Feuchtigkeit gut und haften selbst nach dem Duschen, wenn man beim Waschen und Abtrocknen nicht zu grob darüberreibt. Auch Schwimmen oder Schwitzen machen dem Tape nichts aus. Tipp von Physiotherapeut Manuel Klose: „Föhnen Sie das Tape nach dem Duschen trocken. Das reaktiviert den Kleber, und es hält länger.“
Wann sollte ich das Tape entfernen?
Ist ein Tape korrekt angelegt, verursacht es normalerweise keine Beschwerden. „Abnehmen sollten Sie es, wenn Hautreaktionen wie Rötungen, Juckreiz oder Bläschen auftreten“, so Physiotherapeut Klose. Auch wenn sich das Tape unangenehm anfühlt oder nicht mehr sicher klebt, sollten Sie es abziehen.
Wie entferne ich das Tape?
Wie ein Pflaster können Sie das Tape einfach abziehen. Bei behaarter Haut ist es angenehmer, es unter der Dusche zu entfernen – langsam und in Haarwuchsrichtung. Entfernen Sie auch die Klebereste gründlich – durch Abrubbeln mit Alkohol oder Waschbenzin.
Was kostet es, wenn ein Arzt das Tape anlegt?
Die gesetzlichen Krankenkassen übernehmen die Kosten für das Anlegen des Tapes meist nicht. Privatund Selbstzahler müssen je nach Aufwand und Größe der Tape-Anlage mit bis zu 20 Euro plus Materialkosten rechnen.