Timo Dillenberger
· 13.05.2023
Typische Probleme beim langen Sitzen im Sattel kennt fast jeder. Diese lassen sich mit guter Rad-Ergonomie meist lösen. Aber wie genau? Und was hilft wem?
Popo schmerzt, Rücken brennt, Fußspitzen taub, Hände kalt, und der Nacken mag den Kopf nicht mehr tragen – die Zeiten im Sattel haben sich für viele in den letzten Jahren deutlich verlängert. Radtourismus, E-Bikes, Umweltgewissen, Dauerstau, Fitnesswelle und nicht zuletzt die Spritpreise haben dafür gesorgt. Bei dem ein oder anderen ist das aber begleitet von kleinen oder größeren Zipperlein, die eben Radfahren mit sich bringt. Da muss man halt durch … Falsch!
Sitzen, Treten und Lenken mag mal anstrengend, ermüdend und vielleicht keine urnatürliche Bewegung sein, aber keiner muss Schmerzen einfach hinnehmen, erst recht nicht an den Kontaktpunkten zum Rad: Sattel, Lenker, Pedale. Mit diesen Schnittstellen zwischen Mensch und Maschine beschäftigen sich die Experten der Ergonomie. Sie versuchen, durch Verbesserung der Bauteile am und intelligente Positionierung des Fahrers auf dem Rad, das Zusammenspiel zwischen Mensch und Technik so zu harmonisieren, dass möglichst wenig Energie verloren geht, eine möglichst gesunde Bewegungsform entsteht und so der beschwerdefreien Fahrt nichts im Weg steht.
Beim Einstellen der Sitzposition hat man die Wahl: im Fachgeschäft, beim Bikefitting-Spezialisten oder auch in Eigenregie zu Hause. Ablauf und Parameter sind in allen Fällen etwa gleich: Sattelhöhe, Sattelneigung, Position Sattel zum Tretlager, Abstand des Lenkers, Überhöhung des Lenkers, Ausrichtung des Cockpits, Positionierung Fuß am Pedal. Natürlich kann ein Experte wie Dr. Kim Tofaute von Hersteller Ergon besser auf individuelle Fragen und Gegebenheiten eingehen, nicht jeder Store hat hier die volle Kompetenz, Spezialisten sind nicht günstig.
Tipp: Wer selbstständig „fitten“ möchte – es gibt von Ergon für 30 Euro eine Toolbox mit allen notwendigen Do-it-yourself-Werkzeugen, Schablonen, Tabellen und einer verständlichen Anleitung, mit der man zumindest ein Basis-Setup für jede Art Bike findet. Auch unsere anderen Experten SQlab und Ergotec bieten Vermessungen und Fitting beim jeweiligen Vertragshändler an.
Das Thema Ergonomie auf die Bauteile Sattel, Lenker und Pedale zu begrenzen würde ihm nicht gerecht werden. Wie Dr. Kim Tofaute, Bikefitting-Spezialist in Diensten von Ergon, einer der Pioniere für ergonomische Radprodukte, bestätigt, fangen gutes Sitzen, Treten und die Radbeherrschung mit dem richtigen Rad an beziehungsweise mit dessen Geometrie. Einen kompletten Fehlkauf kann man wohl mit keinem Aufrüstteil der Welt wieder gutmachen. Und obwohl Neuräder grundsätzlich mit ihrer Rahmenhöhe angegeben werden, spielt bei der Ergonomie die Länge eine viel entscheidendere Rolle. Der Abstand zwischen Sattel und Lenker definiert nämlich den Winkel des Oberkörpers zum Becken und damit auch die Gewichtsverteilung auf dem Rad.
Zwar ist es nicht per se ungesund oder grundsätzlich unkomfortabel, sportlich nach vorne geneigt zu sitzen, aber je weniger Zeit man generell im Sattel verbringt, desto eher sorgt eine solche in der Hüfte abgeknickte Haltung für Druckschmerzen an Händen und Schambein, und Nacken sowie Rücken brennen wegen der höheren Haltearbeit.
Dr. Achim Schmidt, an der Sporthochschule Köln unter anderem Dozent für Radsport und selbst Rennfahrer, rät deshalb: Wer selten und nur kurze Strecken fahre, solle ruhig eine komplett aufrechte Sitzhaltung wie beim Holland- oder Cityrad wählen. Das komme der natürlichen Haltung beim Gehen am nächsten, und man müsse sich weniger mit Anpassungsprozessen belasten.
Neben der Luftbereifung sind seit den ersten Laufrädern die kugelgelagerte Lenkung und der Sattel in seiner modernen Form die größten Entwicklungen in Sachen Komfort und Ergonomie.
Je öfter und vor allem länger man fahre, desto wichtiger sei aber die Effizienz der Sitzposition. Die korrekte Sattel- und Lenkerhöhe und entsprechende Oberkörpervorlage, die Stützwinkel der Arme und Positionierung der Füße auf dem Rad nähmen dann an Bedeutung zu – und damit im Allgemeinen auch Fehlerquellen und Problemstellen. Aus dem Bauch heraus würde Sportwissenschaftler Schmidt bei gut der Hälfte der ihm begegnenden Radfahrer etwas an der Sitzposition ändern, in den meisten Fällen säßen sie zu tief und für ihre körperlichen Voraussetzungen zu langgestreckt.
Faustregel: Befindet sich der obere Kurbelarm parallel zum Rahmenrohr zwischen Tretlager und Sattel (Sitzrohr), sollte das Bein auf der anderen Seite komplett durchgedrückt mit der Ferse auf dem Pedal stehen. Beim Treten über den Fußballen bleibt so immer eine minimale Beugung im Knie, auch über den unteren Totpunkt. Das ist die biomechanisch beste und gesündeste Art zu sitzen. Wer sich unsicher fühlt, darf etwas tiefer, wer einen Fuß flach auf den Boden stellen kann, sitzt definitiv zu niedrig!
Ähnlich sieht das Max Holz, Entwicklungsleiter bei SQlab, zusammen mit Ergon und Ergotec der Vollsortimenter unter den Ergonomie-Experten. Das Rad, genauer das Radfahren, sei in den menschlichen Genen nun mal nicht vorgesehen, weniger Erfahrenen fehle deshalb einfach das Gefühl für das „richtige“ Sitzen. Bei neun von zehn Menschen sieht der studierte Biomechaniker und Ex-Weltcup-Mountainbiker Verbesserungsbedarf, bei der Hälfte davon spricht er sogar von potenziellen Problemfällen. Aber das Rad existiere nun mal, als Hobbygefährt, Sportgerät oder Transportmittel, und mit gezielter Anpassung der Kontaktpunkte könne man den meisten den Spaß am Radfahren zurückbringen.
Ein in diesem Zusammenhang interessantes Experiment fand 2018 zwischen Mannheim und Paris statt. Mit Nachbauten der 200 Jahre alten Draisine, dem ersten Laufrad und Urvater aller Fahrräder, versuchten Experte Schmidt und sein Hochschulkollege Frank Hülsemann die 200 Kilometer gehend beziehungsweise laufend zu bewältigen. Angesichts ihrer Fitness und des biomechanischen Vorteils, sein Gewicht dabei nicht tragen zu müssen, eigentlich eine lösbare Aufgabe in drei Tagen. Doch gerade das Sitzen auf den Beinen und deren gleichzeitiges Bewegen erwies sich als schmerzhafter Kompromiss. Der breite, mit Rosshaar und Leder aufgepolsterte „Sitzbalken“ zwang beide zu einer Lauftechnik mit auswärts abgespreizten Beinen, während der natürliche Gang die Füße genau unter dem Körper platziert; je schneller man geht oder läuft, desto mehr liegen die Fußabdrücke übrigens auf einer Linie.
O-Ton Schmidt: „Das war, als würde man joggen, aber mit einer Getränkekiste zwischen den Knien!“ Warum dieser Exkurs? Hauptsächlich, um zu verdeutlichen, welchen Spagat die Ergonomie im Radsport vollführen muss. Der Sattel muss das Becken und damit den Großteil des Fahrergewichts aufnehmen, darf aber gleichzeitig die Auf- und Ab-Bewegung der Beine nicht stören. Als wäre das nicht schon schwer genug, bietet die menschliche Anatomie dem Sattel relativ wenige und kleine Angriffspunkte. Der Beckenknochen ist V-förmig zulaufend, letztendlich bleiben nur zwei solide Kontaktpunkte von der Fläche eines Kronkorkens. Denn egal wie breit, kräftig, schmal, trainiert oder latent ein Popo ist, die weichen Anteile tragen nahezu kein Körpergewicht.
Selbstexperiment: Man lege ein Stück Wellpappe auf einen harten Sitz und ziehe sein Becken aktiv nach unten in ihn hinein. Die entstehenden Abdrücke entsprechen Größe und Abstand der Beckenknochen.
Der Aufbau des Sattels ist ein bisschen das Negativ zu dem des Beckens. Der hintere Teil ist standardmäßig breiter, um die Sitzbeine zu tragen. Um den punktuellen Druck hier zu verringern, kann man die Fläche polstern, aber Achtung: Je tiefer man in das Polster einsinkt, desto mehr drückt das Material gegen Rück- und Innenseite des Oberschenkels. Das kostet nicht nur ein klein wenig Kraft bei jedem Tritt, die Reib- und Druckstellen können mit zunehmender Fahrt wehtun oder sogar wund werden. Es hat schon einen Grund, weshalb Rennfahrer trotz sechs bis sieben Stunden im Sattel sehr schmale Modelle nutzen. Das hat nichts mit Gewicht oder Aerodynamik zu tun. Kommt hinzu, dass an der Innenseite der Beine große, wichtige Blutgefäße entlanglaufen.
Extrem dick gepolsterte Sättel mit entsprechendem Druck in die Flanken können die Durchblutung verschlechtern. Wer grundsätzlich kalte Füße beim Radfahren bekommt – hier könnte die Ursache liegen. Max Holz von SQlab bestätigt aus seiner Erfahrung, dass es selten direkte Kausalketten zwischen Symptom und Ursache gebe, der Schmerz und der Grund dafür also nicht immer an derselben Stelle lokalisiert sein müssen, wie im Beispiel oben.
Bei älteren Rädern sind oft noch Sättel mit quer zur Fahrtrichtung stark gewölbter Sitzfläche verbaut. Wenn die beiden knöchernen Kontaktpunkte nicht auf einer waagerechten Fläche ruhen, hat das sehr oft Schmerzen und Brennen in der Tiefe des Beckens zur Folge. Grund: Das Fahrergewicht drückt die beiden Sitzknochen herab, auf einer gewölbten Kontaktfläche wird diese Kraft nach außen umgeleitet, als würde man sich mit den Händen auf einem Ball abstützen. Die Beckenknochen sind aber nicht verwachsen, sondern werden durch Bänder und Muskelspannung zusammengehalten. Drückt das Körpergewicht die beiden Seiten durch die Sattelform auseinander, besteht hier ein ständiger Zug auf diese Partien. Aus all dem folgt: Die beiden unteren Enden des Sitzbeinknochens sollten auf einer ebenen, nicht übertrieben gepolsterten Fläche ruhen, je länger und sportlicher die Fahrten, desto schmaler sollte paradoxerweise der Sattel geschnitten sein. Das Vermessen des Sitzbeinabstands ist deshalb der erste Schritt zum Finden des passenden Sattels.
Nach vorne werden die allermeisten Modelle am Markt deutlich schmaler. Wenn wir uns die Probleme von Dr. Schmidt auf seiner Draisine ins Gedächtnis rufen, wird klar, warum überhaupt. Die Beine sollten möglichst nah am Rad auf und ab pedalieren, damit die Knie der natürlichen Bewegungsachse wie beim Gehen und Laufen folgen. Wie ein „Cowboy“ mit nach außen rotierten Beinen auf dem Rad zu sitzen, wie es Kim Tofaute mit einem Augenzwinkern nennt, ist nicht nur mühsam, sondern sei auf Dauer auch nicht gut für den Bewegungsapparat. Sattelnase oder -horn, so nennt man den Vorderteil, soll je nach Oberkörpervorlage kein bis wenig Gewicht aufnehmen, ist trotzdem nicht verzichtbar.
Zum einen verhindert sie ein Herunterrutschen vom Sattel, viel wichtiger aber ist ihre Funktion zur Führung des Rades. Selbst mit beiden Händen fest am Lenker dirigiert man das Bike auch mit den Oberschenkeln, spätestens beim Anzeigen eines Richtungswechsels würde das System ohne Sattelnase höchst instabil.
Die Schwierigkeit: Je nachdem, wie tief der Oberkörper sich neigen soll und wie gelenkig die Person ist, rotiert auch das Becken nach vorne, und die Last auf die sensiblen Teile steigt. Der Bereich vor den Sitzbeinhöckern ist nicht knöchern, im Gegenteil, dort befinden sich empfindliche und stark durchblutete Weichteile, bei allen Geschlechtern. Hier einfach die Fläche zu vergrößern oder dick zu polstern hätte wieder den Effekt wie bei der Draisine.
SQlab hat dazu eine Studie gemacht, bei der männliche Probanden auf einem Radergometer und verschiedenen Sattelkonzepten pedalieren mussten, gleichzeitig wurde die Sauerstoffsättigung in ihrem Genital gemessen. Das etwas erschreckende Resultat: Mit den meisten Sattelkonzepten fiel die Versorgung auf unter 25 Prozent, in einigen wenigen sogar unter fünf. Je nach Dauer könne das nicht nur zur Taubheit, sondern sogar zu Störungen der Potenz führen, so SQlab-Entwickler Holz.
Grob gesagt, gibt es drei bewährte Sattelkonzepte gegen diese verheerenden Zahlen plus den ein oder anderen vielversprechenden Ansatz. Alle haben ihre Berechtigung, und man kann schwer sagen: Dieser Sattel ist der beste! Sattel, Sitzposition und Po müssen einfach zusammenpassen, bei ergonomischen Sättel ist die Wahrscheinlichkeit aber deutlich geringer, sich zu vergreifen, wobei Produktauswahl und Radeinstellung stets Hand in Hand gehen. Tofaute spricht von den „drei Säulen für Spaß am Radfahren“: das richtige Material, die korrekte Einstellung und eine adaptierte Physis, also körperliche Gewöhnung, und eine gewisse Fitness. Jeweils die Hälfte der typischen Probleme sind laut ihm durch Korrektur der Position beziehungsweise Tausch von Ergoteilen zu beheben.
Der Spaß-Dreiklang gilt auch am Lenker. Wie beim Sattel hat auch hier die individuelle Haltung auf dem Rad direkten Einfluss auf mögliche Probleme. Die naheliegendsten sind natürlich die direkt an den Händen. Je nach Sportlichkeit des Rades liegen bis zu 40 Prozent des Gesamtgewichts auf dem Vorderrad, die etwas geringere Stützlast am Lenker ist also nicht zu unterschätzen, aber: Mit gut eingestellter Sitzposition und etwas Körperspannung reduziert sich dieser Kraftaufwand sehr, Profis können sogar in Rennhaltung freihändig fahren!
Bei Tourern, Trekking- und Citybikes sind Handschmerzen selten auf hohe Stützlast, sondern auf falsche Handhaltung zurückzuführen. Die evolutionäre Umformung der Hand zum Greifwerkzeug hat hier einen recht empfindlichen Übergang zwischen Hand und Unterarm geschaffen, der nur in gerader Haltung problemfrei bleibt. Die richtige Handhaltung kann man nach der „Gepäckmethode“ herausfinden: In der Stellung, in der man einen schweren Koffer tragen würde, sollte das Handgelenk auch Richtung Lenker zeigen. Intuitiv stützen sich die meisten Radler an runden Griffen aber eher mit der Handfläche zwischen Daumenbeuge und Kleinfingergrundgelenk statt dem Handballen ab, der Druck des Arms schiebt so das Handgelenk „am Griff vorbei“ nach unten in eine endgradige Position, die Nerven und Blutgefäße beeinflusst.
Neben regelmäßiger Selbstkontrolle helfen hier ergonomische Griffe, die eher flächig als rund sind und die Hand in die beschriebene Haltung zwingen. Clever ist hier auch eine zusätzliche leichte Wölbung dem Fahrer entgegen, die genau in die natürliche, hohle Handform passt. Seitlich abgeknickte Handgelenke sind typischer bei Mountainbikes mit ihren sehr breiten oder bei Hollandrädern mit stark zum Fahrer gekröpften Lenkern. Schmerzen im Gelenkspalt auf Daumen- oder entlang der Handkante auf Kleinfingerseite sind hier typische Symptome. Idealerweise achtet man auf ein passendes Zusammenspiel von Fahrer, Vorbaulänge, Lenkerhöhe und -breite sowie Lenkerbiegung schon beim Kauf, weil der Austausch von Teilen aufwändiger und teurer ist, außerdem können sich Änderungen auf die Fahrphysik des Rades auswirken. Hier empfehlen wir tatsächlich die Hilfe eines Fachmanns.
Es gibt für Selbstschrauber aber ein paar Grundregeln oder Vorgaben, was das Setup des Lenkers angeht:
>> Tipp: Lenkermodelle mit mehreren Griffoptionen oder Hörnchen verhindern wirksam vorzeitige Ermüdung.
Auf Neurädern wären ergonomische Teile nur eingeschränkt sinnvoll, da jedes einzelne ja individuell wie Schuhe passen muss. Daher rüsten Hersteller diese oft nur mit Standardkomponenten aus.
Noch nicht ganz so lange macht man sich im Ergonomie-Kontext Gedanken über die Pedale. Technisch bestehen sie ja nur aus einer Plattform mit gelagerter Achse. Wobei Rad-Experte Schmidt von der Sporthochschule Köln beobachtet hat, dass überraschend viele Pedale und Kurbeln im Umlauf durch Sturz oder Umfallen eben nicht mehr auf einer Kreisbahn in Fahrtrichtung laufen, sondern eher elliptisch schräg nach außen oder geneigt zur Kreisbahn, hier bringen laut seiner Expertise wenige Grade schon erheblichste Komforteinbußen.
Der von uns am häufigsten beobachtete „Fehler“ diesbezüglich ist das Aufsetzen der Füße im Mittelfußbereich, nicht am Fußballen – oft zu sehen in Kombination mit weit nach außen rotierten Knien – ist die Folge einer zu tiefen Sattelposition. Besonders Männer finden es oft praktisch, den Absatz am Pedal einzuhaken. Außerdem ist ihr Pomuskel oft verkürzt, der ist unter anderem für die Außenrotation des Beins zuständig. Der Gegenspieler auf der Innenseite des Beins ist dagegen zu inaktiv, wie Experte Tofaute weiß.
Wie aber sieht die korrekte Tretbewegung bzw. die richtige Ergonomie beim Pedalieren aus? Dafür kehren wir wieder zu Max Holz und seiner These zurück, dass Radfahren kein natürliches Bewegungsprogramm sei. Man rollt nicht ab wie beim Gehen, muss den Körper nicht anheben, und die Füße sind während des kompletten Umlaufs quasi fixiert und nicht frei. Das macht es sehr wichtig, wie man den Fuß auf dem Pedal positioniert, nicht nur für die Füße. Deren Ausrichtung setzt sich nach oben durch die Knie in die Hüftgelenke und damit den Rumpf fort.
Um nochmal den Vergleich mit dem Gehen zu nutzen: Dabei wird zwar der gesamte Fuß aufgesetzt, der eigentliche Abdruck erfolgt aber mit dem Fußballen. Diese Zone ist zur Übertragung von Druck gebaut, der Bereich dahinter, das hohe Längsgewölbe, nicht. An seiner Unterseite befinden sich keine knöchernen Kontaktflächen unter der Haut, sondern eine Reihe gespannter Sehnen, die beim gesunden Barfußgang den Boden gar nicht berühren und punktuellen Druck von unten gar nicht mögen. Deshalb gehört der Vorfuß aufs Pedal, genauer gesagt sollte der Großzehballen exakt über der Achse des Pedals stehen.
>> Tipp: Bei zu weichen Sohlen von Sportschuhen zum Beispiel können sich Achse oder Rahmen des Pedals tief in das Material einpressen und hier sehr punktuellen Druck erzeugen. Zumindest für längere Strecken sind festere Sohlen besser, spezielle Radschuhe besitzen genau aus diesem Grund sogar eine durchgängig versteifte Sohle.
Weil spezielle Radschuhe auf Alltagsrädern wenig Sinn machen, fangen Ergopedale das mit größeren, flächigen Pedalkörpern auf, manche Modelle sind zusätzlich leicht konkav, also nach unten gewölbt, damit der Fuß quasi automatisch in die korrekte Position rutscht. Ein Rand auf der Innenseite hilft dem Fahrer außerdem, den Fuß möglichst weit innen auf dem Pedal zu platzieren, ohne Gefahr zu laufen, mit der Kurbel zu kollidieren. Wie erwähnt, liegt die biomechanisch ideale Tretbewegung möglichst nah am Rad dran, das betrifft sowohl die Füße als auch die Knie. Die enge Beinhaltung können die Wenigsten körperlich umsetzen, der Kompromiss zwischen ideal und bequem liegt beim Q-Faktor, sozusagen dem seitlichen Abstand des Pedalkörpers zum Radmittelpunkt, bei Hüftbreite.
Durch die Ergopedale, die es zum Teil auch je nach Habitus des Fahrers mit unterschiedlichen Achslängen gibt, sind die Füße schon korrekt positioniert, dem Fahrer obliegt es jetzt nur, seine Knie so nah wie möglich am Rad zu halten. Eine visuelle Hilfe: Ein imaginärer Faden, mit Gewicht an der Kniespitze befestigt, sollte über die komplette Kurbelumdrehung über der Fußmitte baumeln. Seitliche Auslenkungen im Knie würden dieses als Scharniergelenk nämlich auf Dauer reizen – oder Schlimmeres. Okay, so hundertprozentig trifft der Vergleich mit dem Motor nicht zu, denn nicht alle „Bauteile“ des Menschen sind im rechten Winkel zueinander angeordnet.
Wie in der Skizze des Zusammenspiels von Fuß und Pedale zu sehen, ist die natürliche Fußstellung nicht ganz gerade nach vorne ausgerichtet; die beiden Füße bilden ein leichtes V von circa 15 Grad. Auch dem tragen ergonomische Pedale Rechnung, die Führungskante auf der Innenseite ist exakt nach diesem Winkel ausgerichtet. Ab Sommer wird es von SQlab sogar ein Pedal geben, dessen Trittfläche leicht drehbar ist, was wiederum Spannungen in Knie und Fuß verhindern soll.
Wenn Sattel und Pedale schon getauscht und die Sitzposition professionell oder im Do-it-yourself-Verfahren optimiert wurden und trotzdem Füße und/oder Knie stechend oder brennend schmerzen, kann das an überlasteten oder verkrampften Fußsohlen infolge von Fehlstellungen liegen, teilweise auch an nicht optimalen Tretbewegungen mit zu viel Kraft und zu wenig Frequenz. Ein verhältnismäßig günstiger Schritt zur Optimierung der Ergonomie sind hier Einlagen. Manche polstern Druckstellen weg, andere unterstützen die Fußgewölbe, die meisten davon versteifen die Sohle des Schuhs. Der größte Nutzen liegt unserer Ansicht nach aber in der korrekten Positionierung des Fußes über dem Pedal, und das eben radspezifisch.
Einlagen, die fürs Laufen oder Wandern gedacht sind, helfen hier nicht. Wie ein Adapter zwischen Fuß und Pedal kippen sie den Fuß in eine Stellung, die einen direkten, geraden Kraftfluss vom Knie über das Schienbein in die Pedalachse ermöglicht. Die im Gehen für dieses Kippen verantwortlichen Muskeln um das Sprunggelenk sind mit der hohen Krafteinleitung beim Treten schnell müde, das brennende Gefühl stammt meist daher.
Fazit: Wenn ein Ergonomie-Experte wie Kim Tofaute nach Tausenden Vermessungen immer noch erstaunt ist, mit welch minimalen Veränderungen am Rad-Setup man einen Riesensprung in Sachen Fahrkomfort erzielt, und das Lächeln ins Gesicht des Fahrers zurückbringt, zeigt das: Es lohnt sich für jedermann, sich mit dem Thema Ergonomie und Bikefitting zu beschäftigen.
Das war viel Theorie zum Thema Ergonomie, klingt alles wunderbar, muss sich aber auch praktisch beweisen. Und genau das machen wir ab der kommenden Ausgabe exemplarisch an einer Leserin. Die Radnovizin hatte sich auf einen Aufruf von MYBIKE hin gemeldet und wurde bereits vom Fitting-Spezialisten Dr. Kim Tofaute und seinem Ergon-Team bis auf den letzten Millimeter auf ihr neues Rad angepasst – beziehungsweise das Rad auf sie. Ihre Challenge wird darin bestehen, nach einer kurzen Eingewöhnungsphase eine Tour von 100 Kilometern zu absolvieren, für einen Neuling mit einer erwarteten Nettofahrzeit von etwa fünf Stunden eine echte Ausdauerleistung. Wir werden das Experiment begleiten und natürlich berichten, ob die Maßnahmen des Bike-Fittings wie erwartet gefruchtet haben. Mehr in Ausgabe 4/23.