Jörg Spaniol
· 20.10.2015
Reicht eine für alles – oder ist die bunte Vielfalt besser? Schwere Entscheidung, denn sowohl die selbsttönenden Radbrillen als auch die Modelle mit Wechselscheiben sind in den vergangenen Jahren technisch vorangekommen. Wir haben acht Modelle jeder Kategorie getestet.
Es macht Klick! und die Uhr läuft. Zahlen flackern durch ein kleines Display. Nochmal Klick! Die Uhr und der Belichtungsmesser stehen still. Das Brillenglas ist so dunkel, als hätte jemand schwarze Tinte darüber vergossen. 15 Sekunden UV-Bestrahlung haben ausgereicht, um eine zuvor klare Radbrille in die "Schutzklasse 3" zu katapultieren, in der sich normalerweise Sonnenbrillen für Strand und Gebirge tummeln. Die leistungsfähigsten "Selbsttöner" wechseln ihre Filterfarbe nicht mehr von Hell- nach Dunkelgrau, sondern von Weiß bis beinahe Schwarz.
Nebenan liegen die neuesten Modelle mit Wechselscheiben. Die Herausforderung hier: der Scheibenwechsel auf eine zur Situation passende Tönung soll nicht komplizierter sein als etwa das Anziehen eines Sturzhelms. Brillen, bei denen man zum Glaswechsel mit allen Fingern auf der Scheibe herumtatscht und einen Rahmenbruch befürchten muss, sind nicht mehr zeitgemäß. Mit teilbaren Rahmen oder genialen kleinen Riegeln soll endlich gewährleistet sein, dass die mitgelieferten bunten Plastikscheiben zum Durchgucken nicht ungenutzt im Etui vergammeln.
"Photochromatisch" oder Wechselscheibe – was also ist 2015 die bessere Option? Ein Faktor, der bei der Beantwortung der Grundsatzfrage weiterhilft, ist die Physiologie des Sehens. Die Filtertönung einer Radbrille dient nämlich nicht nur der Abdunkelung und damit dem Blendschutz, sondern auch der optimierten Wahrnehmung. Und die ist von der jeweiligen Lichtsituation abhängig. In der Dämmerung, wenn die Farben verblassen, ist die Sache klar: ungetönt ist am besten, weil es kein Licht "schluckt". Die selbsttönenden Brillen im Test haben wir deshalb mit der geringstmöglichen Ausgangstönung bestellt; die meisten sind praktisch ungetönt. Sonnenbrillen werden per Europanorm in Schutzklassen eingeteilt, je nach Lichtdurchlässigkeit. Die geringste Schutzklasse S0 reicht bis zu einer Abdunkelung von 20 Prozent.
Bei mehr Helligkeit, aber sehr trübem Licht können gelbe und orange Gläser die Illusion größerer Helligkeit erzeugen, da das Auge für Gelb besonders viele Rezeptoren hat. Vor allem bei gelben Gläsern ist der Einsatzbereich jedoch schmal: kommt die Sonne heraus, wird die Sicht grell. Orange ist weniger "aufhellend", aber vielseitiger. Viele Wechselscheiben-Modelle im Test haben deshalb eine orange Scheibe für schlechtes Wetter in der Packung.
Besonders häufig ist hierzulande die Wetterlage "heiter bis wolkig", oder der Wechsel zwischen Licht- und Schattenpartien auf der Strecke. Das ideale Radsport-Glas für diese Bedingungen ist ein mäßig abdunkelnder, sogenannter Blaublocker oder Blaudämpfer. Diese Scheiben sind rötlich bis bräunlich. Dadurch, dass sie einen großen Teil des blauen Lichts wegfiltern, entsteht ein kontrastreicherer, schärferer Seheindruck vor allem im Schatten. Dass sie viele Naturfarben satter darstellen, kann darüberhinaus die Laune bessern. So eine Scheibe der Schutzklasse S2 (57 bis 82 Prozent Abdunkelung) dürfte für normal Lichtempfindliche das universellste Glas sein. Serienmäßig kommen die meisten Radbrillen jedoch mit einer Scheibe der Schutzklasse S3. Mit einer Abdunkelung von 82 bis 92 Prozent eignet die sich vor allem für strahlenden Sonnenschein. Hier sind neutralgraue Tönungen häufig, oft auch mit Verspiegelung.
Doch wenn es um das Farbenspektrum der Scheiben geht, haben die Selbsttönenden ein Problem. Die im Radsport beliebten kontraststeigernden Tönungen sind mit photochromatischen Gläsern kaum zu erreichen. Bei ihnen wird zur Anfangstönung lediglich mehr oder weniger Schwarz addiert. Bei klarer Anfangstönung ist das Ergebnis ein vielseitiges, neutrales Grau, doch bei rötlichen Anfangstönungen können seltsame Violett-Töne herauskommen. Grundlage der Verdunkelungsreaktion sind Silberverbindungen, deren Farbe vor allem durch UV-Bestrahlung (verstärkt durch niedrige Temperaturen) sichtbar wird. Bei halbwegs angenehmen Rad-Bedingungen funktioniert das gut, doch im Winter sind Selbsttönende oft dunkler als gewünscht, in sommerlicher Hitze aber möglicherweise zu hell. Und weil die UV-Strahlung nicht unmittelbar an die Helligkeit gekoppelt ist, passt auch die Abdunkelung nicht immer zu den Bedürfnissen des Fahrers.
Dazu kommt die Reaktionszeit der Materialien. Im UV-Licht des Labors wechselten viele Gläser innerhalb von 10 bis 20 Sekunden von Klarglas bis Schutzlasse S3, die vor greller Sonne schützt. Der Rückweg dauert bei Raumtemperatur aber üblicherweise fünf- bis zehnmal so lang. Eine Überraschung bei den Selbsttönern sind die neuen ImpactX2-Gläser von Rudy Project. Sie wechseln von klarer Scheibe hin zu einem immer stärkeren Rotbraun, was sie von den grauen Mitbewerbern abhebt und zu Test-Lieblingen macht. Perfekt sind die Selbsttönenden allgemein bei Fahrten in die Nacht oder beim ambitioniert frühen Start in den Tag – auf plötzliche Helligkeitswechsel, etwa bei einer Waldpassage oder einen Tunnel, können sie nicht zeitnah reagieren.
Wer angesichts dieser Einschränkungen bei den Selbsttönern seine Brille dann doch lieber selbst auf die Verhältnisse abstimmt, sollte die Kaufentscheidung unbedingt im Fachhandel treffen. Wie praktikabel der Glaswechsel ist, entscheidet nämlich auch die Praxis im Laden. Der Glaswechsel beim passenden Modell sollte möglich sein, ohne danach die Brille putzen zu müssen. Und er sollte so geschmeidig funktionieren, dass man dem Mechanismus viele, viele Scheibenwechsel zutraut. Die Qualität dieser Mechanik ist ein zentrales Argument im Kampf beider Brillentypen. Der Preis tritt dagegen in den Hintergrund: Eine gute Brille mit drei beiliegenden Wechselscheiben muss nicht teurer sein als eine mit einer einzigen, selbsttönenden Scheibe.
Der komplette Artikel stand in Trekkingbike-Ausgabe 5/2015.
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