Jochen Donner
· 18.01.2023
Cargobikes sind das neue „Cool“ – das Viva Carry All kombiniert entspanntes Radeln mit Bäckerrad-Nostalgie. So schneidet das Rad ab.
Schon im 19. Jahrhundert waren Räder mit gelenktem Frontträger populär: In großen Weidekörben, die am Frontträger über einem kleinen Vorderrad befestigt waren, fuhren frühmorgens fröhliche Bäckerjungen frische Brötchen aus. Etwa 150 Jahre später zitiert die mittlerweile in deutsche Hände übergegangene Marke Viva mit dem Carry All N7 antike Fahrradtechnik und Bauformen.
Das glänzend blau lackierte Rad weckt spontane Sympathien bei den meisten Betrachtern. Sein ungleiches Räder-Paar, der stählerne Rahmen mit doppeltem Oberrohr und dicken Muffen sowie ein künstlerisch gestalteter Kettenschutz verfehlen nicht ihre Wirkung. Aus der Zeit gefallen wirkt auch das lange Steuerrohr mit einem flachen Lenkwinkel von nur 68 Grad Neigung: An seinem oberen Ende ergibt sich eine kompakte, angenehme Sitzposition, die der geschwungene Lenker noch verstärkt.
Unten sorgt das Steuerrohr, zusammen mit der weit vorgebogenen Gabel für einen langen Radstand und ein träges Lenkverhalten. In engeren Kurven neigt das Vorderrad deshalb etwas zum Abkippen, doch insgesamt fährt sich das Rädchen richtig angenehm: Es hat einen ruhigen Geradeauslauf, die Sitzhaltung ist entspannt aufrecht, man kurvt gelassen durch die Straßen. Jede andere Fahrweise wäre auch verfehlt, denn die 7-Gang-Nabenschaltung lässt sich etwas Zeit beim Gangwechsel. Ihre Übersetzung ist für ausgesprochen langsame Kurbelumdrehungen abgestimmt. Der erste Gang ist beim Anfahren und in langsamer Fahrt der richtige, der siebte kommt dagegen kaum einmal zum Einsatz.
Auch die Rücktritt-Bremse als einzige Verzögerungsmöglichkeit hinten und die Nexus-Rollerbrake vorn sind pure Low-Tech. Man kommt damit zwar immer zum Stehen, aber mit zeitgenössischen Scheibenbremsen haben sie nur den Gattungsbegriff gemein: Beides sind Bremsen. Mit seinen fast 19 Kilo ist das Viva Carry All ohnehin ein Fall für Flaneure – Gemächlichkeit und Entschleunigung sind die passende Grundhaltung für das nostalgische Konzept. Leider ist die hübsch verchromte Retro-Leuchte (mit LED) vorn direkt hinter der Trägerstrebe montiert. So wirft sie bei Dunkelheit mehr Schatten als Licht auf die Straße.
Beim Einlenken spürt man bereits das Zusatzgewicht des aus Stahlrohren geschweißten Frontträgers – woran man sich aber schnell gewöhnt. Schwerere Zuladung dagegen erhöht die Lenkkräfte stark, präzises Lenken wird mit steigender Last immer schwieriger. Gabel und Träger verwinden sich unter Last und schwingen zunehmend nach. Schon bei etwa sieben Kilo Zuladung war für uns der Fahrspaß am Ende – aus guten Gründen sind die meisten Lasten-Frontträger am Rahmen und nicht an der Gabel befestigt. Zudem ist es auf dem Trägergitter sehr schwer, irgendetwas rutschfest zu befestigen. Will man das Viva Carry All wirklich zum Transport einsetzen, muss man selber basteln: Man kann eine Kiste oder Korb auf dem Träger fest verschrauben und sein Transportgut dort hineinlegen. So haben es schließlich die Bäckerjungs vor 150 Jahren auch schon gemacht.
Legt man nicht allzu strenge Kriterien an, kann man mit dem Carry All zwar nicht alles transportieren, unbelastet radelt man jedoch gemütlich und entspannt durch die Stadt. Für etwas über 1.000 Euro ist der Nostalgie-Transporter eine extravagante Fortbewegungs-Alternative für kürzere Strecken.