Jörg Spaniol
· 16.01.2017
Von Null auf Trend in wenigen Jahren: Anspruchsvolle Selbstversorger-Touren sind zeitgeistig – und befeuern die Fantasie von Rad-Abenteurern und -Designern.
Ein echter Bikepacker diskutiert nicht, ob er aus Gewichtsgründen den Griff seiner Zahnbürste absägen sollte. Das macht er sowieso. Diskussionswürdig erscheint einem echten Extremradlern eher die Frage, ob die Zahnbürste überhaupt ihr Zusatzgewicht wert ist. Einer der Favoriten des 4000- Kilometer-Selbstversorger-Rennens „Tour Divide“ von 2016, Josh Kato, hatte seine Ausrüstung auf insgesamt 17 Kilo zusammengestrichen – einschließlich kompletter Campingausrüstung für die Rocky Mountains. Und inklusive Fahrrad. Von Rasierzeug war auf seiner Packliste nichts zu finden, was ein Grund für die gefühlte Nähe zwischen Bikepacking und modischem Vollbart sein könnte.
Dieses Kontrastprogramm befeuert urbane Sehnsüchte, ganz unabhängig von der Frage, ob die gekaufte Abenteuerausrüstung jemals artgerecht eingesetzt wird. Auf der Anbieterseite fällt dieser Impuls auf fruchtbare Äcker. Zieht man einen Strich unter die letzten zwei oder drei Messe-Jahrgänge, ist „Bikepacking“ oder „Adventure Cycling“ einer der auffälligsten Trends im erweiterten Trekking-Bereich – sieht man einmal großzügig von der Elektrifizierung ab.
Der Begriff „Bikepacking“ lässt sich nicht völlig trennscharf umreißen. Destilliert man die einschlägigen Internet-Seiten, geht es aber immer um mehrtägige Radtouren abseits der üblichen Infrastruktur, bei denen die Übernachtung im Freien einen wesentlichen Teil des Erlebnisses ausmacht. Es leuchtet ein, dass diese Kombination aus ruppigen Wegen und Übernachtungsgepäck zu eigenen Lösungen verführt. Die augenfälligste davon sind die Taschen.
Ein konventionelles Tourenrad in voller Beladung schleppen und zerren zu müssen, ist eine Strafe. In ruppigem Gelände Hindernisse zu umzirkeln, ist schwierig, weil das Gewicht die Lenkung träge macht. Zudem springt gelegentlich eine Tasche ab. Bikepacker verzichten deshalb trotz voller Ausrüstung gerne auf Gepäckträger. Dabei geht es nicht nur um das Gewicht der Träger, sondern vor allem um die Lastverteilung: Je dichter Gepäck am Vorderrad an der Lenkachse platziert ist, desto agiler bleibt das Rad. Und je tiefer und mittiger der Schwerpunkt der gesamten Fuhre ist, desto sicherer wird das Handling.
Wer sein Rahmendreieck mit einer Packtasche ausfüllt, hat dort nämlich keinen Platz mehr für Trinkflaschen. Die wandern an die Gabel. Alternativ lassen sich dort auch spezielle Gepäck-Käfige schwerpunktgünstig befestigen.
Über dem Hinterrad schwebt üblicherweise eine Satteltasche mit bis zu 15 Liter Volumen. Ein klassischer Gepäckträger fehlt, auch wenn fast alle speziellen Bikepacking-Räder seine Montage zulassen würden. Dazu kommt ein wasserdichter Packsack mit Spezialhalterung am Lenker. Schlafsack oder Wechselklamotten finden hier Platz. Geld lässt sich mit diesem alternativen Packsystem kaum sparen, denn die wirklich durchdachten Spezialtaschen sind teuer: Um die 200 Euro kostet manche Rahmen- oder Satteltasche.
Schnell macht das neue Packsystem obendrein. Den meisten Trekkingradlern dürfte die Reisegeschwindigkeit nicht besonders wichtig sein, doch die Internetseite „cyclingabout.com“ berichtet glaubhaft über einen Aerodynamiktest auf einer Radrennbahn, in dem konventionelle Packtaschen mit Gepäckträger und ein Set Bikepacking-Taschen verglichen wurden. Der Testfahrer trat mit konstanter Leistung (200 Watt) in die Pedale. Mit einem Paar Ortlieb-Taschen am Front- oder Heckträger erreichte er eine Durchschnittsgeschwindigkeit von etwa 28 , doch mit der Bikepacking-Ausstattung waren es etwa 30 Stundenkilometer – für Sportler ein sehr deutlicher Unterschied. Dass die Taschen auch jenseits von Aero-Überlegungen neue Gepäckvarianten zulassen, ist auch für traditionelle Radreisende ein Gewinn. Abgesehen von den „Anything Cages“, den Gepäckkörbchen für die Gabel, passen die Taschen auch an ein zeitloses Trekkingrad.
Wir haben vier mehr oder weniger spezialisierte Vertreter der Gattung „Abenteuerrad“ zum Test bestellt, um das ganze Spektrum aufzuzeigen. Allen gemeinsam ist der Anspruch, zuverlässig und wartungsarm zu funktionieren. Lässt man das wettkampforientierte Salsa Cutthroat einmal außen vor, scheint der Rahmenwerkstoff Stahl besonders gute Voraussetzungen dafür zu bieten. Die Vorteile des Materials werden gelegentlich fast religiös beschworen. Insbesondere Fahrkomfort und Dauerhaltbarkeit sollen auf ganz besonderem Niveau liegen, das höchstens von Titan übertroffen werde. Man kann das mit guten Argumenten bezweifeln, doch eines bleibt Rahmen und Gabeln aus diesem Material: Die vielen, vielen Gewindeösen sind mit vertretbarem Aufwand kaum haltbarer und belastbarer an Rahmen und Gabel anzubringen als mit dem Traditionswerkstoff. Eingenietete Gewinde in Aluminium und erst Recht in Carbon sind dagegen zweite Wahl. Allen voran Surly, aber auch Bombtrack und Specialized nutzen das aus, um jede Menge Optionen für den Gepäcktransport anzubieten. Mit satten 20 Gewindeösen an der Gabel schießt Surly definitiv den Vogel ab – selbst Experten grübeln bei mancher Öse kurz über ihren Zweck.Ähnlich steife Rahmensets aus Aluminium wären allerdings deutlich leichter, nach unseren Erfahrungen dürfte die Differenz bei so robusten Modellen etwa ein Kilo für Rahmen und Gabel betragen.
Sie würde nicht nur den Gepäcktransport erschweren, sondern könnte auch Luft verlieren oder verschleißen. Ein Sorglos-Bike dieser Kategorie verzichtet in der Serienausstattung darauf, doch bei Salsa und Bombtrack wäre die Geometrie dafür ausgelegt. Auch die Zugverlegung mit durchgängigen Außenhüllen zielt auf Wartungsarmut in extrem schmutzigen Umgebungen. Alle Räder im Test favorisieren zudem Scheibenbremsen. Steckachsen für mehr Steifigkeit und Präzision sind entweder bereits montiert oder – am Surly Troll – grundsätzlich möglich.
Noch ist es zu früh, den Einfluss des Bikepacking-Trends auf das Reisen per Rad abzuschätzen, doch rein technisch ist es ganz sicher eine Bereicherung: Die starken Einflüsse aus dem Mountainbike-Bereich erweitern das Reiseradspektrum um sinvolle, robuste Technik wie die Steckachsen bei Scheibenbrems-Rädern und dicke Reifen für Offroad-Reisen. Das erweiterte Taschensortiment erleichtert auch Wochenendtrips mit ganz konventionellen Rädern, weil es ohne zusätzlich anzuschraubende Gepäckträger auskommt. Und die Bilder der Bikepacker von den ganzen, großartigen Landschaften? Sie erweitern unseren Horizont, beflügeln die Fantasie und lassen uns im Geiste schon die Säge am Zahnbürstengriff ansetzen.
Der komplette Artikel "Trendreport Bikepacking“ stand in Trekkingbike-Ausgabe 1/2017. Sie können die Ausgabe in der Trekkingbike-App (iTunes und Google Play) laden oder im DK-Shop bestellen.