Pendler-Rad wie aus einem Guss

Jörg Spaniol

 · 12.02.2015

Pendler-Rad wie aus einem GussFoto: Daniel Simon
Pendler-Rad wie aus einem Guss

Mit großem Aufwand integriert Canyon beim Commuter alles, was sonst die klare Linie unterbricht. Konsequente Detaillösungen machen das Rad technisch und optisch zu einer ungewöhnlichen Einheit.

Am 28. August 2013 dürften viele Produktmanager der Trekkingbike-Branche zusammengezuckt sein. An diesem Tag begann nämlich die Eurobike-Messe. Und auf dem Canyon-Stand glänzte ein graues Rad, das noch aus vielen gefrästen und gedruckten Plastikteilen bestand: Die fertigungsnahe Studie zu unserem Pin-Up. Der Schrecken wäre verständlich, denn das Muster wurde Wirklichkeit: Mit dem Commuter als Topmodell steigt Canyon für die Saison 2015 tatsächlich in den Markt der urbanen Alltagsräder ein.

Die Lenker-Vorbau-Einheit mit integriertem Supernova-Scheinwerfer setzt neue Maßstäbe bei der Systemintegration.
Foto: Daniel Simon

Und Canyon ist nicht irgendwer. Keine andere Marke hat den Markt für hochwertige Rennräder und Mountainbikes im vergangenen Jahrzehnt so aufgemischt wie der Versandhandel aus Koblenz. Vom Billig­anbieter hat sich die Marke zu einem der innovativsten und umsatzstärksten Anbieter von Sporträdern entwickelt – in einem Tempo, dem viele Konkurrenten nicht folgen konnten. Nur Stadt- und Tourenräder, die gab es bisher nicht. Insofern ist das Commuter nicht nur ein Pendlerrad, sondern auch eine Ansage. Und was für eine!
Man hat die Silhouette schon irgendwo gesehen, diesen Katzenbuckel zwischen Oberrohr und Vorbau, diesen geschmeidigen Übergang. Beim Sportwagenhersteller Jaguar zum Beispiel, in den Linien der Kühlerfigur, zwischen Schultern und Kopf der springenden Katze. Aber auch andere Fahrräder – etwa der französischen Marke Look – kamen und kommen mit diesem markanten Detail auf den Markt. Doch das sind Highend-Wettkampfmaschinen, und sie kosten ein Mehrfaches der Canyon-Kampfmaschine.
Das Rad, das bei TREKKINGBIKE zum ersten Test hereinrollte, ist noch ein Prototyp. Fahrbar, aber in manchen Ausstattungs- und Technikdetails noch nicht so weit wie die Serienbikes, die im Frühjahr ausgeliefert werden sollen. Optisch wird sich wenig ändern. Und was das Team um Designer Lutz Scheffer und Produktmanager Sebastian Wegerle da ausgetüftelt hat, ist mehr als ein Look, denn es geht ganz zentral um Technik. Im Mittelpunkt steht die integrierte Einheit aus Vorbau, Scheinwerfer und zwei eingeschraubten Lenkerhälften. Aufgeräumter geht es nicht: Lediglich der Schaltzug der Nabenschaltung verläuft offen ins Unterrohr, alle anderen Kabel und Züge gelangen durch Vorbau und Rahmen zum Ziel – konstruktiv ein enormer Aufwand, und technisch ein Schutz vor Schäden, etwa in vollen Fahrradständern.
Erste Sitzprobe. Ganz leicht flexen die beiden Hälften der längsgeteilten Carbonstütze zurück, und die Hände greifen weit nach unten, bis sie die Ledergriffe finden. Eine sportliche Sitzposition, kombiniert mit einem sehr spritzigen Lenkverhalten. Dass das Commuter sich so schnell und wendig anfühlt, liegt auch an den speziellen Laufrädern. Die sind fast vier Zentimeter kleiner als üblich (Reifenmaß „27,5 Zoll“) wodurch sie weniger stabilisierende Kreiselkräfte entwickeln. Dazu kommen extraleichte Reifen und Felgen. Hier hat Canyon ganz bewusst zuguns­ten der Sportlichkeit entschieden: Die leichten Felgen begrenzen das Systemgewicht aus Rad, Zuladung und Fahrer auf 110 Kilo. Doch das passt ins Konzept eines leichten, flinken Pendlerrades. Dass bei Canyon praxisnah entwickelt wird, zeigt die Länge der Schutzbleche, dass kein Detail unbeachtet bleibt, bezeugt die einheitlich matte Oberfläche dieser und fast aller anderen Bauteile. Auch antriebstechnisch macht Canyon keine Experimente – was soll schon schiefgehen bei dieser Ausstattung? Das Auffälligste am rollenden Rad ist unterwegs, das nichts auffällt. Kein Geräusch, nicht einmal scheppernde Züge, und der Riemen ist sowieso ein stummer Genosse. Autofirmen haben Akustik-Designer. Vielleicht hat Canyon für dieses Bike einen davon ausgeliehen.

Alles prima also bei Optik, Akustik und Fahrgefühl? Nicht ganz. Ausgerechnet das aufwändigste Teil, die Vorbaulenkerlampe, hat ihre Grenzen. Dass diese Eigenentwicklung teuer ist, leuchtet ein. Und dass jedes einzelne dieser Teile billiger wird, je mehr davon produziert werden, ist wahrscheinlich. Jedenfalls verwendet Canyon quer durch alle Rahmengrößen dieselbe Vorbaulänge, 80 Millimeter. Wenn sich damit eine passende Sitzlänge und Lenkerhöhe einstellt, ist alles prima. Wenn das nicht so ist, passt das Rad nicht und lässt sich auch nicht passend machen – Glanz und Elend der Systemintegration sind oft nur Zentimeter voneinander entfernt.

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