Jochen Donner
· 11.12.2014
Wer größer ist als die Norm, hat es schwer, ein passendes Fahrrad zu finden. Große Räder fordern auch ihre Erbauer: Mit den größeren Maßen wächst die Belastung. Acht Riesenräder zwischen Größe 64 und 70 stellen sich dem TREKKINGBIKE-Test.
Jeder Große, der zu uns kommt, bringt eine Leidensgeschichte mit“, sagt Stefan Stiener. Der muss es wissen: Der Chef von Velotraum misst selbst über Normalmaß und hat von daher schon immer ein offenes Ohr für seine Leidensgenossen. Meist haben die erst nach vielen Jahren der Behelfs- und Bastellösungen beschlossen, jetzt doch mal Geld in die Hand zu nehmen und ein „richtiges Fahrrad“ zu kaufen – eben eines, das endlich passt!
Die Rahmengrößen der meisten serienmäßigen Trekking-, Alltags- und Reiseräder enden um die 60, 62 Zentimeter. Einige Hersteller gehen bis 64, 65 Zentimeter, aber dann ist gewöhnlich Schluss. Ein Mensch mit einer Innenbeinlänge von einem Meter sitzt darauf noch immer wie auf einem Kinderrad.
Dass die Menschen immer größer werden, steht statistisch fest. Die Gründe liegen mehrheitlich in immer besserer Ernährung, Bildung und medizinischer Versorgung – gemeinhin auch „Wohlstand“ genannt. Für manche Statistiker gilt daher die zunehmende Körpergröße sogar als direkter Indikator für den Wohlstandsgrad einer Gesellschaft. Laut einer repräsentativen Erhebung des Sozio-ökonomischen Panels des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung DIW, sind immerhin gut 6% aller deutschen Männer im Jahr 2006 über 190 Zentimeter groß. Bei Frauen liegt der Anteil allerdings bei unter einem zehntel Prozent.
Noch sind es oft kleinere, engagierte Anbieter wie Velotraum oder Tout Terrain, die für dieses Nischenpublikum Fahrräder bauen. Manchmal steht, wie bei Stefan Stiener von Velotraum, auch eine persönliche Motivation am Anfang: Wer kein vernünftiges Rad findet, baut sich schließlich eines, das passt – weil er kann. Doch auch etablierte Serienhersteller schätzen die richtig Großen als Kundschaft: Die Fahrradmanufaktur hält über Jahre treu das T-XXL im Angebot, Hartje bietet zwei Trekkingräder bis Rahmenhöhe 70, einige weitere Modelle in 67 und 64. Stückzahl-Riese Derby Cycles steuert gleich 11 sogenannte „XXL-Modelle“ in seinen Marken Kalkhoff, Raleigh und Univega bei, die ebenfalls bis Rahmengröße 67 und 70 reichen. Rahmenbau-Betriebe wie die Gebrüder Schauff oder Werner Juchem haben sich sogar auf große Radler als Klientel spezialisiert. Erst recht bei klassischen Custom-Anbietern mit einem großen Anteil an wunschgemäß konfigurierten Bikes wie Maxx aus Rosenheim oder der saarländischen Manufaktur Utopia sind lange Radler gut aufgehoben: Hier reicht das reguläre Angebot bis Rahmengröße 66, beim Utopia London gar bis 73. Testräder von Hartje und Juchem konnten wir leider nicht organisieren: Hartje war ausverkauft und Werner Juchem wurde von einer Erkältung an der Herstellung eines XXL-Testrahmens gehindert.
Große Räder haben ihre Eigenheiten: Es genügt nicht, einfach den Bauplan eines Trekkingbikes zu vergrößern. Denn es gilt, die größeren Belastungen durch schwerere Fahrer und verlängerte Hebelverhältnisse im Rahmen zu berücksichtigen. Schon seit Archimedes wissen wir: Wenn die Hebel nur lang genug sind, kriegt man alles kaputt! Ausgangspunkt bei der Fahrrad-Konstruktion sind stets die Laufräder. Meist sind dies hier 28-Zöller, die sich mit dicken Reifen und bis zu 36 Speichen sehr stabil bauen lassen. Die Stabilität kommt dabei nicht nur aus den Komponenten wie Speichen oder Felgen, sondern auch aus der Bauart: von Hand gebaut, abgedrückt und nachzentriert stehen Laufräder klaglos erstaunliche Lasten durch. Regelmäßiges Nachzentrieren hilft, ihre Lebensdauer zu verlängern. Breite Reifen, passende Felgenbreiten und ausreichender Luftdruck schaffen eine stabile Grundlage. Beim Rahmenmaterial spielen kluge Konstruktion und angemessene Rohrdimensionen die Hauptrollen: Große Rohrdurchmesser stützen sich stabiler ab als dünne, zusätzliche Streben helfen, die mit zunehmender Länge ungünstiger werdenden Hebelverhältnisse zu kompensieren. Werden dabei noch die Wandstärken (teilweise bis zu 2 Millimeter) angepasst, erhält man fahrstabile Rahmen für große und schwere Fahrer. Auch bei Anbauteilen wie Vorbau, Lenker und Sattelstütze gilt: Mehr Durchmesser erhöht die Steifigkeit. Sattelstützen sollten mit einer Zwei-Schrauben-Klemmung ausgerüstet sein; falls sich eine Klemmschraube lockert und im schlimmsten Falle bricht, stürzt der Sattel nicht sofort ab. Angemessene Lenkerbreiten von 66 oder 68 Zentimetern passen besser zu großen Fahrern als schmale 64er. Bei Federgabeln sind luftgefederte eigentlich besser anpassbar. Im Testfeld sind jedoch meist verstärkte Starrgabeln im Einsatz; die beiden Federgabeln an Kalkhoff und Univega sind extra mit harten Stahlfedern bestückt. Hier existiert allerdings ein Beschaffungsproblem: Viele Hersteller liefern ihre Federgabeln mit zu kurzen Gabelschäften aus: In den Riesenrahmen guckt ein Schaftrohr mit 260 mm Standardmaß noch nicht einmal oben aus dem Steuerrohr heraus!
Gerade die Rahmengeometrie stellt enorme Herausforderungen an die Hersteller: Ein Rahmen für Große muss nicht nur hoch, sondern auch lang genug werden. Oberrohrlängen um die 66 Zentimeter bei Rahmengröße 70 haben wir gemessen. Auch die Steuerrohre müssen sich recken, um den Lenker nicht zu tief zu belassen: Sonst droht in Kurven Knie-Kontakt. Das vermutlich längste Steuerrohr der Welt entdeckten wir am Kalkhoff Image XXL, Größe 70: Sagenhafte 26,5 Zentimeter liften das Cockpit auf passende Höhe für eine aufrechte Fahrposition. Die hier montierte Suntour CR8-Gabel besitzt ein extralanges Schaftrohr – auch dies ein Beschaffungs-Mehraufwand für Gabel- und Radhersteller. Für die nötige Fersenfreiheit bei Gepäcktransport muss auch die Hinterbaulänge angepasst werden. Hier stehen jedoch die Sitzstreben wieder steiler als üblich. Das hat zur Folge, dass nicht jeder Gepäckträger ans Riesenrad passt. Man sieht: Das Thema hat Tücken.
In Bezug auf die Kurbellängen sollte man denken, dass große Menschen auch lange Kurbeln bevorzugen. Shimano bietet noch immer XT-Kurbeln in der Länge 180 mm an – das tun auch andere, spezialisierte Anbieter wie Specialités TA. Doch diese Produkte sind meist teurer und aufwändiger zu beschaffen; also finden sich in unserem Testfeld meist 175er Standard-Kurbeln von Shimano, am Damen-Modell von Utopia sogar eine Mighty-Kurbel mit 170 Millimetern. Doch darf man daraus keine Wissenschaft machen, weiß auch Sumo-Konstrukteur Jan Schauff. „Hier gibt es viele Diskussionen und individuelle Vorlieben, aber keine absolute Wahrheit. Zwar sind längere Kurbeln an großen Rahmen theoretisch sinnvoll, aber mit den Jahren lernt man auch das absolute Gegenteil kennen: Bei BMX-Rennen sind selbst bei 10-Jährigen 180 mm-Kurbeln nichts Besonderes.“
Unser Testfahrer Mark Richter war jedenfalls von der Professionalität und Handlichkeit der aktuellen Riesenräder beeindruckt. „Man fühlt sofort, dass die Räder hochwertig sind. So etwas habe ich mir immer gewünscht: Aufsteigen und sich wohlfühlen. Trotzdem man schon mit 17 über 1,90 groß war. Aber damals gab es solche Räder einfach nicht.“ Heute haben auch große Radler bereits ab 700 Euro aufwärts schon allen Grund zur Riesenfreude.