Jochen Donner
· 14.12.2021
Das Enviolo-Automatikgetriebe bringt E-Bikes ohne Schalten stufenlos auf Touren. Die klassische Kettenschaltung verlangt aktive Mitwirkung. Wir haben verglichen.
Für unseren Test haben wir uns das gleiche Fahrrad einmal mit Enviolo-Automatikgetriebe und einmal mit klassischer Kettenschaltung schicken lassen. Das Canyon Precede:On ist ein handliches Citybike mit viel Fahrkomfort und guten Allround-Eigenschaften. Direktvertreiber Canyon bietet unter diesem Namen ein dynamisch geformtes, modernes Rahmen-Gabel-Set aus Carbon, das Bosch-Motor, Intube-Akku, Cockpit, Bremsleitungen und Schaltzug integriert. Schaltzug? Ja, aber nur bei Modell-Variante CF 8, die über eine 1x12-XT-Kettenschaltung verfügt: Hier nimmt das XT-Schaltwerk seine Befehle brav per Bowdenzug entgegen und wuchtet die Kette Klick für Klick auf eins der angewählten zwölf Ritzel.
Beim Schwestermodell CF 9 übersetzt eine stufenlose Nabenschaltung die Antriebskräfte: Bosch-Motor und Fahrer treiben gemeinsam die Tretkurbel an. Ein pflegeleichter Gates-Zahnriemen überträgt diese Kraft ans Hinterrad. Dort übersetzt die Enviolo Automatiq Sport zwischen Ritzel und Achse. Wie ihr Name sagt, schaltet sie automatisch: Am Bosch-Kiox-Display stellt der E-Biker zuvor seine gewünschte Wohlfühl-Kadenz ein – die Drehzahl, die man beim Pedalieren auf die Kurbel bringt. Daran orientiert sich die Enviolo-Elektronik. Sie regelt nun die aktuelle Übersetzung innerhalb ihrer Gesamtbandbreite von 380 Prozent so, dass man stets seine vorab gewählte Kadenz, sprich: Wunsch-Drehzahl, beibehalten kann. Schaltbefehle erhält die Enviolo-Nabe per Funk aus der Motorsteuerung. Eine grüne LED am Nabenkörper dient als Betriebsanzeige. Einen Schaltzug dagegen sucht man vergebens: Ein kleiner Stellmotor ist außen an die Nabe geflanscht, der die Verstellmechanik der Übersetzung steuert. Er arbeitet mit Bordstrom, also rein elektrisch. Einen Schalthebel gibt es nicht. Der Drehzahlsensor der Kurbel protokolliert, wie schnell der Radler pedaliert. Sobald die aktuelle Trittfrequenz um mehr als fünf Umdrehungen pro Minute abweicht, sendet die Steuerelektronik ein Signal. Der Stellmotor dreht eine Welle, die im Nabeninneren sechs rotierende Kugeln zwischen zwei Ringen mit schrägen Flächen manipuliert. Stellt man auch die Achse der Kugeln schräg, verändert sich die Übersetzung zwischen Ein- und Ausgangsseite. Ein Spezial-Öl mit Schwebepartikeln und definierter Viskosität stellt die notwendige Balance zwischen Schmierung und Reibung sicher. Bewegen sich die Kugeln, geschieht das völlig lautlos. Nur das mechanische Geräusch des Stellmotors ist zu hören, solange der seine Arbeit tut.
Fast jeder Biker weiß, wie sich eine Kettenschaltung bedient und wie sich das anfühlt. Perfekt eingestellt, ist das Spiel zwischen knackigem Schalthebel, exakt reagierendem Schaltwerk und der nach kaum einer Viertelumdrehung des Ritzels erfolgten Neuplatzierung der Kette auf einem anderen Zahnrad ein mechanisch perfekter Akt. Im Hinblick auf Schnelligkeit, Wirkungsgrad, Übersetzungsumfang und -abstufung sowie niedriges Gewicht ist diese Schaltungsart an Fahrrad und E-Bike unübertroffen. Allerdings setzt eine permanent gute Funktion hohen Wartungsaufwand voraus: Nur, wenn sie regelmäßig gesäubert, geschmiert und sorgfältig nachjustiert wird, sobald sie zu hakeln beginnt, spielt die Kettenschaltung ihre Vorteile wirklich aus.
Die Nabenschaltung, wie die Enviolo eine ist, ist genügsamer: Ihr ist egal, wie dreckig und/oder nass es da draußen ist. Ihre Mechanik arbeitet, hermetisch eingehaust, stets unter optimalen Bedingungen. Schmierung ist immer ausreichend vorhanden, Wasser, Schmutz und andere Störeinflüsse bleiben draußen. Das mindert den Wartungsbedarf erheblich und verlängert die Lebensdauer. Die Enviolo-Nabenschaltung ist etwas schwerer als eine Kettenschaltung (das Enviolo-Canyon wiegt 1,2 Kilo mehr als das XT-Canyon) und bietet weniger Übersetzungsbandbreite: Wenn man mit reiner Muskelkraft fährt, stößt man mit den mageren 380 Prozent zwischen kleinstem und größtem Gang spätestens in hügeligem Gelände schnell an Grenzen. Im Pedelec dagegen gleicht der Motor auch ungünstige Übersetzungen der Schaltung durch erhöhte Leistung aus. Letztlich geht das jedoch auf Kosten der Akku-Reichweite. Hier ist die aktiv bediente Kettenschaltung klar im Vorteil. Sie stellt, bei kundigem Umgang, immer einen genau zur dynamischen Drehzahl passenden Gang bereit. So nutzt man sein E-Bike maximal effizient, es geht kaum Schwung verloren. Energiesparendes Mit-Treten geht umso besser, je breiter und feiner die Schaltung gestuft ist. So lässt sich die Muskelkraft deutlich effizienter einbringen. Die Kettenschaltung am CF 8 liefert 510 Prozent Bandbreite und eine Entfaltung von 1,87 Metern im kleinsten und 9,55 Metern im größten Gang. Mit 380 Prozent Bandbreite und 2,26 Metern im kleinsten sowie 8,59 Metern im größten Gang bietet die Enviolo zwar deutlich geringere Werte, aber dafür bei stufenlos gleitenden Übersetzungsverhältnissen.
Vom etwas gestressteren Antrieb und Akku spürt man jedoch beim Fahren gar nichts: Bergauf sprintet das Automatik-Canyon hurtig, bis bei etwas über 25 km/h der Motor ausblendet. Nur der längere Leistungsbalken im Display verrät, dass der Antrieb schon mehr ackern muss als im XT-Canyon bei optimaler Gangwahl. Auch beim Beschleunigen aus dem Stand oder beim Anfahren mit Gepäck gleitet die Übersetzung der Enviolo-Nabe stufenlos und ohne Ruckeln hoch, bis die gewählte Kurbelfrequenz erreicht ist. Dabei bemerkt man jedoch, dass eine gleichbleibende Kadenz auch störend sein kann: Auf den ersten Metern tritt man intuitiv schneller, um erst mal in Fahrt zu kommen. Da kommt die Nabe anfangs noch nicht mit. Sie braucht Zeit, während sie die Übersetzung ändert. Die Automatik vergleicht laufend programmierte mit tatsächlicher Drehzahl. Bei Abweichungen von mehr als 5 U/min regelt sie behutsam nach. Da das stufenlos geschieht, bemerkt man kleine Korrekturen der Übersetzung kaum. Fährt man jedoch auf eine Ampel zu, die bald auf Gelb zu schalten droht, fehlt ein Kickdown, das kurze Runterschalten, um Drehzahl und Schwung aufzunehmen, damit der Sprint gelingt. Kommt man zum Stehen, legt der Stellmotor sofort einen leichten Anfahrgang ein.
Hier hat das CF 8 mit Kettenschaltung deutlich die Nase vorn. Es lässt die Ampel noch lange vor dem Rotlicht hinter sich. Die Automatik reagiert bei solchen Manövern eher gelassen, um nicht zu sagen, träge. Das mag für dynamische Fahrer manchmal frustrierend sein, bei getragener Fahrweise jedoch ideal: Mit steter Kadenz fährt man tatsächlich anders, meist eben entspannter. Bei Rotlicht kommt man tatsächlich öfter mal zum Stehen. Doch dafür sieht man mehr von der Welt.
Das CF 8 mit Kettenschaltung ist für aktive, dynamische Fahrer empfehlenswert. Hier ergänzen sich Motor- und eigene Kraft optimal, Fahrleistungen und Akkureichweite lassen sich maximal ausreizen. Das CF 9 mit Schalt-Automatik ist von hohem Reiz für den entspannt-genüsslichen Fahrer-Typus. Das intuitivere Radeln, ohne sich um Schaltung oder Gangauswahl Gedanken zu machen, ja sogar ohne einen Schalthebel zu bedienen, fühlt sich gut an. Die Automatik funktioniert perfekt und auf unseren Testfahrten völlig störungsfrei. Sie benötigt aber mehr Zeit, die jeweils passende Übersetzung herzustellen. Über die optionale Enviolo-App, die sich auch mit der Bosch-App verknüpfen kann, lassen sich Charakteristik und Kraftentfaltung der Automatik variieren. Jochen Donner, Test-Redakteur
Den kompletten Vergleichstest der XT-Kettenschaltung und des Enviolo Automatikgetriebes inkl. aller Testurteile und Einzelbewertungen können Sie kostenpflichtig unter dem Artikel als PDF herunterladen.