Matthias Rotter
· 13.10.2022
Zwischen Rhein und Ruhr hinterließ das Industriezeitalter ein vergessenes Schienennetz. Heute versprechen die Radwege auf den alten Bahntrassen Fahrradgenuss vom Feinsten. Eine Achterbahnfahrt durch kühle Tunnels und über luftige Viadukte.
Tief im Westen, wo die Sonne verstaubt“, sang Herbert Grönemeyer im Jahr 1984. Der Musiker beschrieb damit den Grauschleier, der Deutschlands Industrieregionen einst überzog. Klar, an erster Stelle denkt man dabei ans Ruhrgebiet. Aber auch der südlich des namengebenden Flusses angrenzende Großraum zwischen den Städten Düsseldorf, Wuppertal und Leverkusen zählt zu den ältesten Wirtschaftszentren weltweit. Das Bergische Land steht für Metallverarbeitung, Werkzeugherstellung, Maschinenbau und Textilindustrie.
Was also erwartet mich hier? Bonjour Tristesse? Radfahren zwischen Fabrikhallen und durch öde Häuserschluchten? Mitnichten. Bereits seit unserem Start in Wermelskirchen rollen wir auf der Balkantrasse durch einen Tunnel aus sattem Grün. Natur statt Grauschleier. Der Radweg ist eine von zahlreichen Routen, die das Bergische Land auf ehemaligen Eisenbahnlinien durchziehen. Mit moderaten Steigungsprozenten und abseits von Stadthektik und verkehrsreichen Straßen. Bis Anfang der Achtzigerjahre schnaufte hier der Balkanexpress durch die Hügel, so genannt, weil der dünn besiedelte Abschnitt zwischen Leverkusen und Lennep die Menschen wohl ans gleichnamige Gebirge im Südosten Europas erinnerte. Es mag auch eine ordentliche Prise Fernweh hineingespielt haben, man weiß es nicht. Fest steht hingegen, dass wir bereits nach wenigen Kilometern begeistert sind von dieser unbeschwerten Art des Radfahrens. Die alten Bahndämme zeugen zwar einerseits vom Niedergang des Schienenverkehrs, vor allem in strukturschwachen Regionen. Andererseits werden sie mit ihrer Reaktivierung wieder Teil eines umweltfreundlichen Verkehrssystems der Gegenwart und Zukunft. Auch mein Fahrradpartner Klaus, der im benachbarten Ruhrgebiet zu Hause ist, berichtet von zahlreichen herrlichen Rad-Bahnrouten durch sein Heimrevier.
Fast unbemerkt haben wir uns inzwischen auf der Balkantrasse Remscheid genähert, der immerhin drittgrößten Stadt des Bergischen Landes. Am Bahnhof des Ortsteils Lennep zweigen wir für eine Kaffeepause vom Radweg ab und parken unsere E-Bikes am pittoresken Marktplatz. Lennep, einst sogar Hansestadt, lag an einer wichtigen Fernhandelsstraße und erlangte als ein Zentrum der Tuchindustrie große Bedeutung. Die kreisförmige, unter Denkmalschutz stehende Altstadt ist ein bergisches Kleinod. Dicht an dicht drängen sich die schiefergetäfelten Häuschen mit grün gestrichenen Fenstern und Türen in den engen Gassen um die Stadtkirche. Nur für einen Besuch des Röntgen-Museums reicht unsere Zeit nicht, schließlich warten noch gut 50 Kilometer bis zum ersten Tagesziel. Zwischen Lennep und Wuppertal umkurvt der Radweg die noch intakte Bahntrasse. Wir rollen durch Bauernland, idyllische Niederungen und entlang plätschernder Bäche. Hier lässt uns die Route die hügelige Topografie des Bergischen Landes spüren. Noch eine rauschende Abfahrt durch den Marscheider Wald, und wir stehen urplötzlich vor den Toren Wuppertals. Überraschung gelungen! Einmal mehr helfen uns die E-Motoren hinauf zum Stadtteil Langerfeld, wo wir einfädeln in die Trasse der Schwarzbahn. Der Abschnitt wurde erst im Jahr 2020 eröffnet und führt in einem großen S zur legendären Nordbahn. Ein erstes spektakuläres Viadukt vermittelt einen Vorgeschmack auf die nächsten Kilometer. Denn die Nordbahn ist mit ihrer Hochtrasse mindestens so einmalig wie die Stadt selbst. Geschuldet der unwegsamen Landschaft im engen Flusstal, realisierte die Rheinische Eisenbahngesellschaft im Jahr 1879 dieses beispiellose Projekt. Fast einhundert Jahre lang sorgte der Güterverkehr für Wohlstand, und doch war der wirtschaftliche Niedergang letztlich nicht aufzuhalten. Nachdem 1991 der letzte Zug über die Brücken und durch die Tunnels gerattert war, verwilderte die Trasse im Dornröschenschlaf. Erst 15 Jahre später besannen sich Stadt und der Verein Wuppertalbewegung eines Besseren. Und so gleiten heute Radler, Skater, Jogger und Spaziergänger in schwindelnder Höhe über die Dächer der Stadt. Wir machen Halt auf dem Steinweg-Viadukt und genießen das Panorama. Tief unter uns pulsiert der motorisierte Verkehr durch die vielspurigen Adern der Metropole. Ein Moloch. Und doch freuen wir uns schon auf morgen, wenn wir am Ende der zweiten Etappe in das hektische Treiben eintauchen werden.
Der nächste Tag. Die Trasse der Niederbergbahn hat uns am Ufer der Ruhr ausgespuckt. Ihr Lauf wird uns die nächsten 35 Kilometer flussaufwärts bis Hattingen geleiten. Der Ruhrtal-Radweg ist zwar keine alte Bahntrasse, weiß aber nicht minder spannende Geschichten zu erzählen. Denn was man kaum glauben kann: Wo die Menschen heute ihre Freizeit verbringen, wo die Natur aus allen Nähten platzt, begann einst die Industrialisierung der Region. Im 16. Jahrhundert entdeckte man, dass die horizontal liegenden Kohleflöze an den Steilhängen direkt an die Erdoberfläche traten. Beste Voraussetzungen, um den begehrten Rohstoff bequem abzubauen. Erst als die Kohlevorräte am Fluss erschöpft waren, bildete sich Richtung Norden das heutige Ruhrgebiet mit dem Untertagebau. Ein Zeugnis dieser Vergangenheit passieren wir am Baldeneysee, wo der grüne Förderturm der Zeche Carl Funke vom anderen Ufer herübergrüßt. Von 1897 bis 1973 wurden dort Hunderttausende Tonnen Steinkohle aus den Schächten gefördert. Aber längst hat die Natur das Gelände zurückerobert und die Zeche in Rente geschickt. Oder um es mit den Worten von Klaus zu sagen: „Wer Ruß und qualmende Schlote sehen will, ist 30 Jahre zu spät in diese Region gekommen.“
„Authentische Städte und spannende Industriekultur im Kilometertakt. Diese Fahrradtour durchs Bergische Land ist an Abwechslung kaum zu toppen.“ Matthias Rotter, MYBIKE-Autor
Wir folgen weiter den Schlingen der Ruhr, vorbei am Städte-Konglomerat zwischen Essen und Bochum, das sich unsichtbar hinterm Hochufer verbirgt. Selten ist der Kontrast zwischen Grün und Grau größer. In Hattingen endet unsere Stippvisite im Pott, und wir lenken unseren E-Zug auf die Trasse der ehemaligen Kohlenbahn, die noch bis 1984 das Ruhrgebiet mit Wuppertal verband. Ein Musterbeispiel für die Baukunst der Bahningenieure. Denn der Radweg überwindet 180 Höhenmeter mit einer Maximalsteigung von gerade einmal zwei Prozent. Höhepunkt der Trasse ist der über 700 Meter lange Scheetunnel, dessen Röhre mit frostiger Temperatur für Gänsehaut sorgt.
Die dritte Etappe zieht noch einmal alle Register in puncto Kontrastprogramm. Wir starten in Wuppertal, die Köpfe noch voll von den Eindrücken dieser faszinierenden Stadt. Wie an einer Perlenkette reihen sich die zahlreichen Stadtviertel über eine Länge von rund 15 Kilometern aneinander. Die Schwebebahn bildet die Schnur der Kette, eine geniale Idee der historischen Verkehrsplaner. In Sonnborn rauschen ihre Triebwagen ein letztes Mal unmittelbar über unsere Köpfe hinweg. Dann fädeln wir ein in die Korkenziehertrasse, deren Kurven uns über Gräfrath und Solingen zum letzten großen Highlight führen. Oder besser gesagt, darunter hindurch. Denn die Schienen über die Müngstener Brücke zählen noch zum aktiven Bahnnetz. Und das ist in Anbetracht der beängstigenden Höhe wahrscheinlich besser so. Außerdem eröffnet die Perspektive von unten spektakuläre Einblicke in das Labyrinth aus Stahlträgern. So richtig spürbar wird die Höhe der Brücke aber erst, als wir ein paar Kilometer weiter selbst aus dem Tal der Wupper aufs Niveau der Bahntrasse klettern müssen. Ein letztes Mal sind wir dankbar für die Motorunterstützung der E-Bikes. Doch die Aussicht von Schloss Burg über die grünen Hügel des Bergischen Landes bildet ein würdiges Finale unseres Achters.
Die gesamte Achterrunde ist 166 Kilometer lang. Wenngleich die Bahntrassen kaum Gefälle und Steigungsprozente aufweisen, kommen doch rund 900 Höhenmeter zusammen. Das liegt hauptsächlich an den Transfers zwischen den Trassen, wo man die extrem hügelige Topografie des Bergischen Landes zu spüren bekommt. Bestes Beispiel ist das fast 200 Meter tiefe Tal der Wupper, das es südlich von Solingen zu durchqueren gilt. Ein Großteil der Wege ist asphaltiert, bis auf einen kurzen Abschnitt mit Naturbelag zwischen Hattingen und Wuppertal (Etappe 2).
Die Route verläuft ab Wermelskirchen chronologisch auf folgenden Radwegen: Balkantrasse // Nordbahntrasse Wuppertal // Niederbergbahn // Ruhrtal Radweg // Glückauf-Trasse // Nordbahntrasse Wuppertal // Korkenziehertrasse
Sie können den GPX-Track zu der Radreise im Bergischen Land hier kostenlos herunterladen oder finden sie in der MYBIKE Collection “Bahn frei im Bergischen Land” auf komoot.
Wir haben die Tour mit E-Trekkingbikes in drei Etappen absolviert.
Der städtische Großraum bietet zahlreiche Unterkünfte entlang der Strecken. Spezielle Informationen zu allen Bett + Bike Betrieben unter www.bettundbike.de
Tag 1 Wermelskirchen (oder Lennep Bhf.) - Heiligenhaus (60 km/320 Hm)
Hotel zum Schwanen Wermelskirchen, www.zumschwanen.com
Fahrradfreundliches Hotel mit regionalem Touch. Einzelzimmer ab 55 Euro inkl. Frühstück.
Tag 2 Heiligenhaus - Wuppertal (65 km/250 Hm)
Waldhotel Heiligenhaus, www.wald-hotel.de
Sehr ruhig gelegenes Hotel im Landhausstil. Einzelzimmer ab 104 Euro inkl. Frühstück.
Tag 3 Wuppertal - Wermelskirchen (41 km/330 Hm)
Vienna House Easy Wuppertal, www.viennahouse.com
Modernes Stadthotel im Herzen der City. Einzelzimmer ab 95 Euro inkl. Frühstück.
Wir haben unser Auto in Wermelskirchen abgestellt, rund 40 Kilometer von Köln, verkehrsgünstig an der A 1 gelegen. Wer mit dem Zug anreist, kann beispielsweise am Bahnhof Remscheid/Lennep optimal in die Runde einsteigen. Der Bahnhof liegt direkt am Radweg Balkantrasse.
Die traditionelle bergische Küche serviert bodenständige, einfache Gerichte, die einen Arbeiter schnell und nachhaltig sättigen mussten. Teures Fleisch kam selten auf den Tisch. Populär ist die sogenannte bergische Kaffeetafel, bei der Herzhaftes mit Süßem gemischt wird. Das Angebot reicht von Rosinenbrot über Zwieback und Milchreis bis hin zu Kottenbutter, Schwarzbrotschnitten, belegt mit geräucherter Mettwurst. Die Kaffeetafel ist quasi eine Art historischer Brunch. Und nicht vergessen: Currywurst Pommes bei der Stippvisite am Südrand des Ruhrgebiets, zum Beispiel an Adrians Trinkhalle am Baldeneysee.
Zeittunnel Wülfrath Der ehemalige Kalk-Steinbruch liegt unmittelbar an der Strecke (erste Etappe, letztes Drittel) und verbindet auf außergewöhnliche Art Industrie- mit Erdgeschichte. Im 160 Meter langen Tunnel, der in dem kraterartigen Bruch endet, wandert man auf einem Zeitstrahl entlang von 400 Millionen Jahren Existenz unseres Planeten. www.zeittunnel.com
Schwebebahn Wuppertal Seit 1901 verbindet diese einzigartige Bahn die wie auf einer Perlenkette aufgereihten Viertel der Stadt. Geschuldet dem Platzmangel im engen Tal der Wupper, schweben die Triebwagen auf Stelzen, meist über dem Fluss entlang. 13,3 Kilometer lang ist die Strecke zwischen Oberbarmen und Vohwinkel. Sehenswert sind nicht nur die Bahnkonstruktion selbst, sondern auch die Bahnhöfe in verschiedenen Baustilen. Besonders klassisch restauriert an der Haltestelle Werther Brücke. www.schwebebahn.de
LVR Industriemuseum Solingen Die ehemalige Gesenkschmiede Hendrichs in der Messerstadt Solingen ist eines von sieben Museen im industriellen Großraum des Städtedreiecks Köln, Dortmund und Duisburg. www.industriemuseum.lvr.de
Historische Ortskerne Auch wenn das industrielle Ambiente an vielen Ecken dominiert, findet man im Bergischen Land durchaus schmucke Orte. Wie zum Beispiel Lennep, das zu Remscheid gehört, und Gräfrath, ein Bezirk von Solingen. Auf Höhe dieser beiden typisch bergischen Fachwerkperlen lohnt es sich definitiv, vom Radweg abzuzweigen und eine Rast auf dem Marktplatz einzulegen. Lennep liegt am Beginn der ersten, Gräfrath eröffnet die dritte Etappe.
Kompass-Karte 756 „Südl. Ruhrgebiet, Bergisches Land“, 1:50.000, ISBN 978-3991212294, 12 Euro, www.kompass.de
Eine Übersichtskarte der Panorama-Radwege mit Infos zu Strecken, Sehenswürdigkeiten sowie Lade- und Servicestationen findet man unter www.einfach-bergisch-radeln.de
Die Bergischen Drei, Kölner Straße 8, 42651 Solingen, Tel. 0202/881606999, www.einfach-bergisch-radeln.de
GPS-Daten Bergisches Land
Bahn frei! Fahrradtour auf alten Bahntrassen durchs Bergische Land (PDF kostenpflichtig)
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