Jörg Spaniol
· 27.11.2022
Die Ammergauer Alpen zwischen Lech und Loisach sind nicht nur Bauplatz weltbekannter Königsschlösser, sondern auch ein riesiges Naturschutzgebiet. MYBIKE hat einen Kurztripp in die Region gemacht, um sie mit dem Fahrrad zu erkunden: Eine Ammergau-Umrundung in zwei Tagen.
So geht also „Overtourism“. Oberhalb der wohl größten Sehenswürdigkeit Bayerns, dem Schloss Neuschwanstein, quert eine Brücke die Pöllatschlucht. Und auf dieser Brücke lockt eine sensationelle – oder gar die einzig wahre? – Perspektive auf das Schloss.
Mehr als 350.000 Menschen haben ihr Neuschwanstein-Foto bislang auf Instagram gestellt. Der Standort „Marienbrücke“ ist dabei kaum zu toppen. Selbst wer einfach nur von der Brücke talwärts schauen will, scheitert wochenends an einer Drehtür mit Digitalanzeige und zwei Security-Mitarbeitern. Aussicht gewünscht? Bitte hinten anstellen! Und Obacht vor dem Verhau aus Selfie-Sticks!
Wie gut, dass am Ende des 19. Jahrhunderts zeitgleich mit dem Bau von Neuschwanstein das moderne Fahrrad mit seinem Kettenantrieb erfunden wurde. Wer mit einer zeitgenössischen Version davon anreist, hat schon auf dem Weg so viel Schönheit inhaliert, dass das vermeintliche „Märchenschloss“ am Etappenort Füssen verzichtbar ist. Das Schloss ist so ziemlich der westlichste Eckpunkt der Ammergauer Alpen. Die sind zwar nicht gerade unentdeckt, aber so unwirtlich, dass ihr Kerngebiet fast unbesiedelt blieb. Selbst auf den gepflegten Radwegen drumherum und mitten hinein wirkt manches so übertrieben bayerisch wie das Motiv eines Sparkassen-Kalenders.
Schon wenige Kilometer nach dem Start strömt die Loisach in milchigem Türkis aus einem Tal, das geradewegs auf die fast 3000 Meter hohen Kalkberge um Garmisch zu zielen scheint. Dass zeitweise nur hundert Meter entfernt die Bundesstraße verläuft, fällt nicht auf. Sie wird verdeckt von dichtem Laub. Und wenn das Auge so von Bayernpracht überwältigt wird, hat das Ohr offenbar Pause. Die Landwirtschaftswege im Loisachtal nutzen bald den ganzen, breiten Talboden, um sich fast topfeben südwärts zu schlängeln.
Doch gerade, als die Garmischer Skisprungschanze in den Blick gerät, kratzt die Loisach die Kurve nach rechts und biegt dahin ab, wo die Berge zusammenrücken. Ein optischer Programmwechsel. Der Fluss, eben noch knietief dahinplätschernd, wäscht hier mit ansehnlichen Schwällen kühlschrankgroße Felsblöcke rund. Ein paar Kajakfahrer mit bunten, absurd kurzen Plastikbooten finden ihre Linie zwischendurch, doch die Garmischer Betriebsamkeit ist längst irgendwo versickert.
Direkt an der deutsch-österreichischen Grenze verabschiedet sich die Radroute vorübergehend vom besiedelten Gebiet. Den Schotterweg hinauf zum Plansee teilen sich Mountainbiker mit Reiseradlern, Wanderer mit Rentnern auf E-Falträdern. Schotter knirscht, Atem keucht. Spätsommerliche Pracht mit gelben Bergahornblättern, dunkelgrünen Tannen und einem langen, klaren See, der längst zu kalt zum Baden ist. Gut, dass die Ausflugsschiffe noch fahren: Von der Uferstraße brüllt Motorradlärm durchs Tal. Man dürfte dort fahren, genau wie die Motorradler auch. Aber es wäre ein Jammer, sich die Schwelgerei in Schönheit durch ein paar Straßenkilometer mit ängstlich verspanntem Nacken versauen zu lassen. Stattdessen kreist der Kopf an Bord des kleinen Schiffes, um das Ammergauer Panorama möglichst lückenlos einzuscannen.
Die zweite Etappe geht es ohnehin ruhig an. Das Ufer des Forggensees eignet sich prächtig zum Einrollen. Flachwelliges Gelände, von graubraunen Kühen abgeweidet, beim Blick nach Süden zacken die schattigen Nordseiten etlicher Allgäuer und Tiroler Berge aufwärts. Segelboote warten auf Wind, Stehpaddler hoffen, dass er nicht kommt, Radler setzen sich ins Gras und staunen: Der Forggensee ist Deutschlands flächengrößter Stausee, erbaut in den 50er-Jahren. Doch er sieht aus, als sei er schon immer hier gewesen. Durch ihn fließt der Lech, die Westgrenze der Ammergauer Alpen. Und das heißt: zurück nach Osten, zurück zur Loisach.
Mit dem Forggensee endet auch die Linie der Ammergauer Felsgipfel. Das Lechtal weitet sich nach Norden in die Modelleisenbahnlandschaft des Ostallgäus. Fast waldlos, aber samtig grün plätschert das Gebirge aus. Doch da unten gäbe es wieder mehr Straßen, mehr Menschen, weniger Ruhe. Mitten durch eine Kuhweide dreht die Schotterstraße rechts hoch, zurück in den Bergwald, zurück ins Grüne. Vielleicht 50 Meter über dem Lechtal schließen wir das letzte Viehgatter. Der Blick zurück: noch ein Blatt für den Sparkassenkalender. Ganz klein, ganz hinten und hellgrau im dunklen Tann: Neuschwanstein. Wo sie wieder Schlange stehen werden, um ihr Foto zu machen.
Bequem per Bahn. Der Startort Eschenlohe liegt an der Bahnstrecke München – Garmisch und wird stündlich angefahren.
Mai bis Ende Oktober. Die Tour steigt bis auf etwa 1000 Meter an. Dort kann sich der Schnee lange halten. Die Plansee-Schiffe verkehren von Ende Mai bis Mitte Oktober.
Old Kings Design Hostel, Franziskanergasse 2, Füssen, Tel. 08362/8839115.
Man spricht (vor allem) englisch: Eine Handvoll Zimmer in einem modern renovierten, uralten Haus in der autofreien Altstadt sind das „Old Kings Design Hostel“. Wer auf ein privates Bad verzichten kann, kommt hier preiswert (ab 20 Euro!) und lässig unter.
Zacherl und Müller, Kemptener Straße 29, Füssen. Tel. 08362/3292.
In einem Ort wie Füssen mit 1,5 Millionen Gästeübernachtungen gibt es wohl keine Geheimtipps. Das „Il Pescatore“ in der Altstadt ist aber mehr als eine simple Pizzeria und zu Recht jeden Abend voll. Unbedingt reservieren! Franziskanergasse 13, Tel. 08362/ 924343.
Die amtliche Freizeitkarte deckt fast das ganze Gebiet ab: Bayerisches Landesamt für Digitalisierung, Breitband und Vermessung UK 50 „Werdenfelser Land/Ammergauer Alpen“, 1:50.000
Auch wenn die Etappen moderat lang sind, ist diese Ammergau-Umrundung eher eine Tour für Fortgeschrittene. Sie führt über längere Strecken auf Schotterstraßen mit mittlerem Gefälle. Es ist keine Mountainbiketour, doch eine bergtaugliche Übersetzung und mindestens 40 Millimeter breite Reifen sind empfehlenswert.
Eschenlohe – Loisach-Radweg – Garmisch – Plansee – Reutte – Alpsee – Füssen
74 Kilometer, 650 Höhenmeter, ca. 12 Prozent maximale Steigung
Streckenbeschaffenheit: Abwechselnd Asphalt und feiner Schotter. Eine stärkere Schotter-Steigung zwischen Griesen und Plansee, eine zweite von Pinswang zum Alpsee. Schiffspassage über den Plansee: Hotel Forelle bis Seespitze sechsmal täglich, 7 Euro pro Person/5 Euro Fahrrad (www.fischeramsee.at).
Zwischen Eschenlohe und Garmisch ist der Loisach-Radweg so alternativlos wie aussichtsreich: Zugspitze und Alpspitze liegen in Blickrichtung. Hinter Garmisch weichen wir vom Radweg ab und bleiben so lange wie möglich auf der Loisach-Nordseite. Das ist schöner, aber auch deutlich schottriger als der Radweg an der Bundesstraße. Tolle Passage durch das Neidernach-Tal hinauf zum Plansee. Die Schiffspassage bis zum Hotel Seespitze ist wunderschön und spart die motorradverseuchte Uferstraße aus; das Südufer ist ein verwurzelter Wanderpfad. Wer in Reutte schon schwächelt, der folgt dem Radweg im Lechtal bis Füssen. Schöner (150 Höhenmeter extra, Blick auf Schloss Neuschwanstein) ist die „Fürstenstraße“ auf der Nordseite des Alpsees.
Füssen – Forggensee – Trauchgau – Bad Kohlgrub – Grafenaschau – Eschenlohe
54 Kilometer, 450 Höhenmeter, 10 Prozent max. Steigung
Streckenbeschaffenheit: Abwechselnd Asphalt und feiner Schotter. Fast verkehrsfreier Radweg am Forggensee-Ufer, dann mit Steigungen auf Forststraße bis Grafenaschau. Nach entspanntem Cruisen am Forggensee-Ufer überquert die Route die Bundesstraße, um sich auf der anderen Seite allmählich in die Wälder der nördlichen Ammergauer Alpen hochzuarbeiten. Das geschieht auf ausgewiesenen Radrouten und ist auch für Schotter-Skeptiker problemlos fahrbar. Wer ein touristisches Highlight mitnehmen will, nimmt die Stichstraße zur Wieskirche, einem berühmten Barock-Prunkstück. Eine sehr aussichtsreiche Rast, das Café Habersetzer in Grafenaschau, wartet kurz vor dem Ziel. Das Naturschutzgebiet Murnauer Moos ist von dort gut zu Fuß zu erkunden.