Veloscenic TourAuf dem neuen Fernradweg vom Eiffelturm ans Meer

Jörg Spaniol

 · 20.02.2023

Start des Fernradwegs Veloscenic ist in Paris
Foto: Jörg Spaniol
Radreise auf dem Fernradweg Veloscenic von Paris zum Mont Saint-Michel | Bilder: Jörg Spaniol

Von der Hauptstadt zum Atlantik: Zwischen dem Pariser Eiffelturm und der unwirklichen Erhebung des Mont Saint-Michel in der Normandie erstreckt sich eine neue Fahrrad-Route. Die 450 Kilometer der „Veloscenic“ schlängeln sich elegant durchs Hinterland zum Meeresstrand.

Guten Morgen, Paris! Es ist sechs Uhr früh, der dampfige Morgen nach gewittriger Nacht riecht ein wenig frisch gewaschen und ein wenig nach den Mülltonnen am Gehsteigrand. Doch nicht eine scheppernde Müllabfuhr, sondern die klappernden Absätze der Pariserinnen auf dem Weg zum Bahnhof Montparnasse ersetzen den Wecker. Irgendwie charmanter, keine Frage. Doch der grundsätzliche Zweifel bleibt bestehen: Ist es eine gute Idee, eine Radreise mitten in einer Millionenstadt zu beginnen?

Gemütliches Cruisen durch das Stadtviertel MontparnasseFoto: Jörg Spaniol
Gemütliches Cruisen durch das Stadtviertel Montparnasse

Die Macher hinter der Rad-Reiseroute „La Véloscénie“ hatten da offenbar weniger Zweifel: Außer der ohnehin sehenswerten Hauptstadt auch noch zwei der meistbesuchten Sehenswürdigkeiten des Landes in eine Tour zu packen hat touristisch großen Reiz. Sieben Millionen Besucher jährlich, also etwa 20.000 pro Tag, spazieren durch die Schlossanlagen von Versailles. Beim Mont Saint-Michel sind es nur etwa halb so viele – aber trotzdem weit mehr als an deutschen Topspots wie dem Schloss Neuschwanstein. Und das Meer als Ziel zieht immer. Auf dem langen Ritt nach Westen liegen zudem noch die Kathedrale von Chartres, etliche Schlösser – und die vielen, vielen anderen Dinge die man per Rad so wunderbar zufällig entdecken kann.

Als in der Gasse unterm Hotelzimmer die Schaufenstergitter hochrumpeln, rollen wir zu dem riesigen Rondell mit dem ersten Wegweiser der Route zum Meer. Also: Das war eigentlich der Plan. Doch in Wirklichkeit ragt der Eiffelturm so gebieterisch in die Pariser Luft, dass dessen Umrundung vor dem eigentlichen Start unverzichtbar erscheint. Und diese Extraschleife beantwortet sozusagen en passant die Frage nach der Sinnhaftigkeit einer Radtour ab Paris-Mitte: Geht, geht wunderbar! In den vergangenen Jahren hat Paris dem Radverkehr so viel Raum verschafft, dass deutsche Großstädte alt aussehen. Und die Véloscénie-Wegweisung nützt eine Abfolge von Grünanlagen und Wohnstraßen, um uns stressarm aus der Metropole zu schleusen.

Nächster Stopp: Versailles ...

Irgendwie hat man das alles schon gesehen: endlose Sichtachsen in einer kilometerlangen Parkanlage, romantische Kalksteinskulpturen, prächtige Zimmerfluchten mit glänzendem Parkettboden und güldenem Gepränge bis zum letzten Fenstergriff. Versailles ist das riesenhafte Klischee von königlicher Pracht. Nach Versailles einen symmetrischen Schlosspark mit geometrischen Beeten und Teichen anzulegen ist fast zwangsläufig nur ein Zitat. Bämm! Versailles setzt Maßstäbe und erschlägt den Besucher fast damit. Ein Park, in dem zur Erheiterung der Königin ein idealisiertes Dorf mit einer echten Bauernfamilie errichtet wurde, ein Gelände, dessen ferne Grenzen höchstens die Touristen in den elektrischen Golfcarts erreichen. Schon kurz nach der Hauptstadt ist damit Punkt zwei auf der Highlight-Liste erreicht und unter glühender Sonne abgehakt. Und allmählich wird es Zeit, das bepackte Rad ein paar Kilometer am Stück durch die echte Provinz zu treten.

Eine Streckenvariante des Veloscenic-Radwegs führt vorbei an Schloss Versailles.Foto: Jörg Spaniol
Eine Streckenvariante des Veloscenic-Radwegs führt vorbei an Schloss Versailles.

Ihr Charme bündelt sich fast beispielhaft um das 10.000-Einwohner-Städtchen Nogent-le-Rotrou. Kleine Geschäfte, ein von stilvoll verwitterten Altbauten umstandener Marktplatz, Hügel und Wälder rundum. Oben beim alten Schloss liegt unser familiäres Bed & Breakfast mit gerade mal drei Gästezimmern. Der Gastgeber bereitet den Frühstückskaffee für seine Gäste und überbrückt die Aufwärmphase der Kaffeemaschine mit ein wenig Small Talk. In Deutschland wäre das der Zeitpunkt für die Themen Wetter oder Fußball, doch hier geht es um Kulinarik, den besten Zeitpunkt für die Apfelernte und die besten Sorten für den Cidre – ein Thema, das hier, im Westen Frankreichs, besonderes Gewicht hat.

Auf verkehrsfreien Wegen, sogenannten Voies Vertes, verläuft ein Großteil des Fernradwegs Veloscenic. | Fotos. Jörg Spaniol
Auf verkehrsfreien Wegen, sogenannten Voies Vertes, verläuft ein Großteil des Fernradwegs Veloscenic. | Fotos. Jörg Spaniol

Von einer verwunschenen ehemaligen Bahntrasse außerhalb von Nogent folgen wir einem unauffälligen Schild auf einer Traktorspur zur Cidre-Produktion des „Maison Ferré“. Die Packtaschen hüpfen auf dem Gepäckträger durch eine Streuobstwiese. Überreife Äpfel liegen im Gras, ein großer Hund schwanzwedelt auf uns zu, eine unscheinbare, aber große Scheune kommt ins Bild.

Grégoire Ferré, der Hausherr, putzt seine ölverschmierten Hände an einem Lappen ab. „So ein Mist“, schimpft er, „die Erntemaschine ist kaputt, und bald geht es los mit den Äpfeln!“ Doch er nimmt sich die Zeit für eine kleine Betriebsführung und einen Testschluck des Nationalgetränks Cidre und seiner destillierten Variante, des Calvados. Es sind nicht die schönsten Früchte, die Ferré in die Presse schüttet. Doch wer die blumige Harmlosigkeit eines englischen Cider oder die herbe Säure hessischen Apfelweins befürchtet, ist schnell bekehrt: Der Cidre der Region Perche erweist sich als ziemlich komplexes und leckeres Getränk, das zum Glück nicht so stark ist, dass es den Weiterweg nach Westen gefährden würde.

Besonders geradlinig fällt der sowieso nicht aus: Abseits der Bahn-Radwege windet er sich kleinteilig durch heckengesäumte Straßen, steigt kurz und steil in lichte Eichenwälder und passiert große Weiden, auf denen die wuchtigen, weißen Charolais-Rinder in aller Ruhe Gras in Steaks verwandeln. Bis zu 400 Meter über dem Meeresspiegel hebt sich das normannische Hinterland. Auf dem Weg nach oben werden die Äcker immer kleiner, die Weiden immer größer. Von Westen ziehen blaugraue Wolken heran. Sie kommen vom Meer und bringen die ersten Möwen mit sich.

Meerwärts im Tunnel

Die letzte Etappe macht es Radlern leicht. Aus den „normannischen Alpen“ senkt sich ein weiterer Bahnradweg zaghaft meerwärts. Lange geht es in einem grünen Tunnel aus Laub bergab, und auch im offenen Gelände ist das Gefälle gerade stark genug, um den Gegenwind zu neutralisieren. Wo der pfeilgerade Weg bei Pontaubault am Ufer der Sélune endet, ist das Flachland erreicht. Der kleine Fluss weitet sich rasch in ein Hunderte Meter breites Mündungsgebiet zwischen struppigen Gräsern. Schafe weiden, grauer Schlick bedeckt weite Uferflächen.

An kaum einem anderen Ort der Welt ist der Tidenhub so stark wie hier: Bis zu 14 Meter liegen zwischen Ebbe und Flut, schon Kilometer vor dem eigentlichen Meer schwappt Salzwasser in den Fluss. Radelnde Familien und Spaziergänger flanieren auf zunehmend sandigen Wegen. Und immer wieder bleibt jemand stehen, schattet die Augen mit der Hand ab und schaut angestrengt in die Ferne: Hundert Meter hoch ragt der Mont Saint-Michel aus den Weiden, aus dem Watt.

Eindrucksvoll ragt der Mont Saint-Michel aus dem Meer.Foto: Jörg Spaniol
Eindrucksvoll ragt der Mont Saint-Michel aus dem Meer.

Fünf oder sechs Kilometer Luftlinie sind es sicher noch dorthin, doch die weltberühmte Silhouette des Klosterberges zieht alle Blicke auf sich – zunächst durch den leichten Dunst der Bucht, dann immer konturenschärfer und in den fahlen Farben seiner mittelalterlichen Häuser. Die letzten Meter ziehen wir künstlich in die Länge: Barfuß gehen wir über festen Sand, lassen grauen Schlick zwischen den Zehen hervorquellen und schlurfen erst im schrägen Abendlicht durch die engen, sich allmählich leerenden Gassen. Ein Aussichtspunkt über den wuchtigen Mauern lädt mit sonnenwarmen Steinen zum Rückblick ostwärts.

Der Eiffelturm ist da nicht zu sehen. Doch eine kleine Trikolore am Ufer fasst unseren Trip quer durchs Land in einen farbigen Dreiklang: Rot, Weiß, Blau. Wie Stadt, Land und Meer.

„Die ‚Véloscénie‘-Route zieht eine überwiegend gemütliche, immer abwechslungsreiche Linie zwischen teils weltberühmten Sehenswürdigkeiten.“ Jörg Spaniol, MYBIKE Reiseautor

GPS-Daten der Veloscenic-Tour

Sie können den GPX-Track zur Radreise auf dem Fernradweg Veloscenic hier kostenlos herunterladen oder finden ihn in der MYBIKE Collection auf komoot.

Fernradweg Véloscénie - Tipps & Infos

Charakter der Veloscenic Tour von Paris ans Meer

Die 450 Kilometer lange Véloscénie-Route (Achtung: International wird sie als „Veloscenic“ mit „c“ vermarktet!) wurde im Sommer 2022 um einige fehlende Stücke ergänzt und somit als durchmarkierte, touristische Radstrecke komplettiert. Sie beginnt im Zentrum von Paris und endet am Mont Saint-Michel an der Atlantikküste. Auch wenn manche Abschnitte auf nicht asphaltierten, wassergebundenen Oberflächen verlaufen, stellt sie keinerlei fahrtechnische Anforderungen. Im mittleren Bereich existieren zwei Streckenvarianten. Die landschaftlich interessantere, nördliche Variante hat ein paar kurze, knackige Steigungen, die südliche verläuft – wie auch sonst weite Streckenteile – überwiegend auf flachen Bahntrassen-Radwegen.

Zur weitgehenden Vermeidung von Autos und befahrenen Straßen wurden die Strecken teilweise etwas verwinkelt angelegt. Auf den autofreien „Voies Vertes“ und Bahntrassen sind häufig Schranken zu umfahren. Wer zügig Strecke machen möchte, kann meist auf kleine Straßen ausweichen.

Tourenverlauf

Paris – Versailles – Chartres – Nogent-le-Rotrou – Mortagne-au-Perche – Alençon – Carrouges – Bagnoles-de-l’Orne – Saint-Hilaire-du-Harcouët – Le Mont Saint-Michel

Anreise nach Paris

Bahn: Entspannter als mit der Bahn kommt man kaum nach Paris. Der TGV durchrast beispielsweise die fast 1.000 Kilometer ab München in weniger als 6 Stunden. Radstellplätze sind reservierungspflichtig und kosten10 Euro. Alternativ ist ein verpacktes, auf höchstens 130 x 90 cm zerlegtes Rad erlaubt.
Auch der Rücktransport vom Ziel ist per Bahn möglich, allerdings nicht direkt vom Mont Saint-Michel. MYBIKE-Tipp: Wir empfehlen die Weiterfahrt auf dem „Vélomaritime“-Radweg nach Saint-Malo westlich des Ziels. Dort ist ein Fernbahnhof. Auch Rennes oder Granville sind geeignete, per Rad erreichbare Bahnhöfe.

Sehenswertes entlang der Radroute Véloscénie

Schon eine detaillierte Auflistung der Sehenswürdigkeiten von Paris füllt Bücher. Daher nur der kurze Hinweis: Die Stadt ist auf Radwegen gut per Rad zu erkunden. Auch das Schloss und die Gärten von Versailles sind touristische Klassiker. Der Eintritt für Schloss und Gärten kostet 31 Euro, Tickets für Teile des Anwesens sind erhältlich.

Zum Mont Saint-Michel gelangt man über eine aufgeständerte Straße per Fahrrad oder per Pendelbus. Das offizielle Radverbot auf diesem Weg interessiert niemanden. Der Eintritt in den Ort selbst ist frei, für die Abtei (9–17.30 h) werden11 Euro fällig. Sonderregelungen für junge EU-Bürger/-innen etc.

Die mittelalterliche Kathedrale von Chartres ist für ihre wertvollen Glasmalereien und die abendlichen Lichtprojektionen dieses und anderer historischer Gebäude rundum berühmt. Die spektakuläre Lightshow mit Musikbegleitung ist kostenlos. www.chartres-tourisme.com Dazu kommen diverse sehenswerte und zu besichtigende Schlösser am Weg wie in Carrouges oder Maintenon. Eine eigenwillige, „neo-byzanthinische“ Kirche steht in Domfront für Besichtigungen offen.

Unterkunft

Chartres: Das Maunoury Citybreak ist ein sehr charmantes Bed & Breakfast in einem vornehmen, alten Stadthaus. Frühstück im großen Wohnzimmer der Gastgeber. DZ/F ab 100 Euro.

Nogent-le-Rotrou: Nahe der Burg von Nogent liegt das frisch renovierte Bed & Breakfast Chambres d’Hôtes Saint Jean mit gerade mal drei Zimmern. Freundlich, ruhig, gutes Frühstück. DZ/F ab 77 Euro.

Mont Saint-Michel: Unmittelbar vor der Touristenattraktion haben die Hotels eher Raststätten-Charme – bei enormen Preisen. Es empfiehlt sich, fünf bis zehn Kilometer entfernt abzusteigen.

Essen und Trinken

Für Paris Gastro-Tipps abzugeben ist verwegen. Trotzdem: Wir waren sehr zufrieden mit der Küche und der Atmosphäre des Papy aux Fourneaux im Viertel Montparnasse. Hauptgerichte 20–30 Euro.

In Nogent-le-Rotrou ist das La Terrasse Saint Pol direkt am Marktplatz in guter Erinnerung. Unprätenziös, modern, lässig.

MYBIKE-Tipp

Cidre, Birnenschaumwein, Calvados ... Die Getränkespezialitäten der Normandie und der Region Perche lassen sich dicht am Radweg bei La Maison Ferré nahe des Dorfes Comblot verkosten und kaufen. Ein kleines Fläschchen alter Calvados passt in jede Packtasche ...
Öffnungszeiten und Anmeldung zu 1,5-stündigen Führungen (englisch oder französisch) unter www.lamaisonferre.fr

Grégoire Ferré, Produzent von Apfel- und Birnencidre sowie Calvados in der Nähe von ComblotFoto: Jörg Spaniol
Grégoire Ferré, Produzent von Apfel- und Birnencidre sowie Calvados in der Nähe von Comblot

Auskunft und Planung Planung

Die auf Französisch und Englisch verfasste Website www.veloscenic.com bietet perfekte Informationen, von GPS-Daten über mögliche Bahnverbindungen und Unterkünfte bis hin zu Sehenswürdigkeiten.

Auch als organisierte Reise mit Leihrädern ist der Trip im Angebot: www.franceavelo.com

Fahrrad-Service an der Veloscenic-Route

Auf der Veloscenic-Website sind mehrere Radverleiher aufgeführt, die Räder und Pedelecs zur One-Way-Miete anbieten. Die Preise für brauchbare Trekkingräder beginnen bei etwa 120 Euro pro Woche, die Kosten für den Rücktransport hängen unter anderem von der Stückzahl ab. Leider befinden sich die Betriebe eher in Küstennähe als am Start – ein Leihrad selbst nach Paris zurückzubringen wäre weniger aufwendig.

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